Die neue Landesregierung von Nordrhein-Westfalen hat ein gut gefülltes Hausaufgabenheft abzuarbeiten, das in erster Linie durch die beiden großen Krisen der jüngsten Vergangenheit geprägt ist. Zum einen gilt es, die bildungspolitischen Folgen der Coronapolitik aufzuarbeiten, zum anderen braucht es mit Blick auf die Sanktionen gegen Russland einen flexiblen Aufgalopp im Strukturwandel. Dazu gehört ein klares Bekenntnis zum Tagebau im Rheinischen Revier bis 2038.
Bildungsdefizite aus der Pandemie müssen aufgearbeitet werden
Besonders kritisch wird in Folge der Pandemiepolitik die Lage an den nordrhein-westfälischen Schulen evaluiert. Die häufig als unklar empfundene Linie der Landesregierung in Fragen der Schulschließung, des Wechselunterrichts und der Maskenpflicht haben die Wählerinnen und Wähler während der letzten zwei Jahre besonders enerviert. Unabhängig von der Frage, was der Regierung hier tatsächlich anzulasten ist, gilt dies: Die Pandemie hat nicht nur Lehrer, Schüler und Eltern Nerven gekostet, sie hat zu empfindlichen Missständen im Vermitteln von Lehrinhalten geführt und sozialpsychologische Folgen bei den Kindern. Diese Konsequenzen verteilen sich asymmetrisch über die breite Schülerschaft. Gerade Kinder mit schwächerem sozio-ökonomischem Hintergrund und Eltern mit weniger Fördermöglichkeiten werden langfristig die Kosten einer fragmentierten Bildungsbiographie tragen müssen.
Die neue Landesregierung muss dem unmittelbar entgegenwirken. Zuerst gilt es, eine Lernstandserhebung durchzuführen, um die individuellen Rückstände zu erfassen. In einem zweiten Schritt sind die Förderbedarfe zu formulieren. Das wird zwar nicht günstig und ist kaum mit dem aktuellen Personal zu stemmen, letztlich zeigt sich ein solches Vorgehen aber als alternativlos. Einerseits sind wir es den vulnerablen Kindern und Jugendlichen schuldig, sie in dieser Phase besonders zu unterstützen. Andererseits brauchen wir qualifizierten Nachwuchs in der aktuellen demographischen Situation mehr denn je. Wieder einmal liegen die Kosten, nicht zu handeln, über den Kosten, zu handeln.
Überfall auf die Ukraine stellt Frage der Versorgungssicherheit neu
Eine große Aufgabe ergibt sich aus dem Management des Strukturwandels, in Nordrhein-Westfalen seit jeher von besonderer Bedeutung. Erstmals wird in Deutschlands bevölkerungsreichstem Bundesland eine Landtagswahl ohne aktive Steinkohlezeche im Ruhrgebiet abgehalten. Der Fokus der Politik liegt auf dem Handling des Tagebaus im Rheinischen Revier, das mit dem diskutierten Importstopp fossiler Energieträger aus Russland ein neues Gewicht erhalten hat.
Der von der Kohlekommission zum Jahr 2038 beschlossene Braunkohleausstieg ist durch die Ampel-Koalition auf Bundesebene in Frage gestellt worden. Erst mit dem Angriff Russlands auf die Ukraine scheint einigen Entscheidungsträgern aufgegangen zu sein, wie groß die Abhängigkeit der deutschen Wirtschaft von den entsprechenden Energieimporten ist. Ein Importstopp bei Ausstieg aus der Nuklearenergie bis Ende 2022 und Kohleausstieg bis 2030 würde gerade der energieintensiven nordrhein-westfälischen Wirtschaft einen schweren Schlag versetzen.
Schon heute gehen Stahlwerke bei Spitzenstrompreisen vom Netz, weil eine Produktion schlichtweg nicht mehr rentabel ist. In Zeiten höchster Ungewissheit ist es geboten, alle möglichen Freiheitsgrade zu erhöhen, um das Ziel der Klimaneutralität 2045/50 zu erreichen. Das bedeutet in der Energieproduktion alle Alternativen zu mobilisieren (Kohleverstromung & CCS, Fracking, AKW, LNG …), zugleich müssen die unternehmerischen Anpassungsspielräume erhöht werden (Lieferkettengesetz und Taxonomien aussetzen, Negativsteuer einführen, Schutzverträge für Energieintensive Sektoren …).
Gesellschaftlicher Zusammenhalt steht in Frage
Bereits vor der russischen Invasion in die Ukraine, die das Management des Strukturwandels belastet und Politiker vor dramatische Entscheidungen stellt, legte eine Forsa-Umfrage in Nordrhein-Westfalen nahe: Die neue Regierung steht vor der Herausforderung, den gesellschaftlichen Zusammenhalt im Land zu wahren und die Menschen nach den Beschränkungen durch die Pandemie wieder im öffentlichen Raum zusammenzuführen. Mehr als die Hälfte der Befragten geben an, das Miteinander zwischen Rhein und Ruhr wäre nachhaltig gestört. Der Politik zutrauen, mit den aktuellen Schwierigkeiten fertig zu werden, tut lediglich eine Minderheit.
Das Dilemma für die neu gewählten Volksvertreter liegt damit auf dem Tisch: Den russischen Aggressionen muss mit deutlichen Wirtschaftssanktionen begegnet werden. Aber solche Maßnahmen müssen – damit sie langfristig wirken können – auch vor Ort vermittelbar und durchhaltbar sein. Das bedeutet im Umkehrschluss, dass der vorgezogene Kohleausstieg im Rheinischen Revier vom Tisch ist. Um die Versorgungssicherheit in Deutschland zu gewähren, braucht es den von der Kohlekommission beschlossenen schrittweisen Ausstieg aus dem Tagebau bis 2038.