Prof. Dr. Michael Hüther, Direktor IW Köln
Der NRW-Wirt­schafts­blog
Klartext
im Westen

Bildungs­po­litik und Struk­tur­wandel in den Griff kriegen

Von Prof. Dr. Michael Hüther

Direktor des Instituts der deutschen Wirtschaft Köln

Prof. Dr. Michael Hüther, Direktor des IW Köln, über Heraus­for­de­rungen für das Land Nordrhein-Westfalen in der Bildungs­po­litik und im Strukturwandel.

Die neue Landes­re­gie­rung von Nordrhein-Westfalen hat ein gut gefülltes Haus­auf­ga­ben­heft abzuarbeiten, das in erster Linie durch die beiden großen Krisen der jüngsten Vergangenheit geprägt ist. Zum einen gilt es, die bildungs­po­li­ti­schen Folgen der Coronapolitik aufzuarbeiten, zum anderen braucht es mit Blick auf die Sanktionen gegen Russland einen flexiblen Aufgalopp im Strukturwandel. Dazu gehört ein klares Bekenntnis zum Tagebau im Rheinischen Revier bis 2038.

Bildungs­de­fi­zite aus der Pandemie müssen aufge­ar­beitet werden

Besonders kritisch wird in Folge der Pande­mie­po­litik die Lage an den nordrhein-westfälischen Schulen evaluiert. Die häufig als unklar empfundene Linie der Landes­re­gie­rung in Fragen der Schul­schlie­ßung, des Wech­sel­un­ter­richts und der Maskenpflicht haben die Wählerinnen und Wähler während der letzten zwei Jahre besonders enerviert. Unabhängig von der Frage, was der Regierung hier tatsächlich anzulasten ist, gilt dies: Die Pandemie hat nicht nur Lehrer, Schüler und Eltern Nerven gekostet, sie hat zu empfindlichen Missständen im Vermitteln von Lehrinhalten geführt und sozi­al­psy­cho­lo­gi­sche Folgen bei den Kindern. Diese Konsequenzen verteilen sich asymmetrisch über die breite Schülerschaft. Gerade Kinder mit schwächerem sozio-ökonomischem Hintergrund und Eltern mit weniger Förder­mög­lich­keiten werden langfristig die Kosten einer fragmentierten Bildungs­bio­gra­phie tragen müssen.

Die neue Landes­re­gie­rung muss dem unmittelbar entgegenwirken. Zuerst gilt es, eine Lern­stand­s­er­he­bung durchzuführen, um die individuellen Rückstände zu erfassen. In einem zweiten Schritt sind die Förderbedarfe zu formulieren. Das wird zwar nicht günstig und ist kaum mit dem aktuellen Personal zu stemmen, letztlich zeigt sich ein solches Vorgehen aber als alternativlos. Einerseits sind wir es den vulnerablen Kindern und Jugendlichen schuldig, sie in dieser Phase besonders zu unterstützen. Andererseits brauchen wir qualifizierten Nachwuchs in der aktuellen demo­gra­phi­schen Situation mehr denn je. Wieder einmal liegen die Kosten, nicht zu handeln, über den Kosten, zu handeln.

Überfall auf die Ukraine stellt Frage der Versor­gungs­si­cher­heit neu

Eine große Aufgabe ergibt sich aus dem Management des Struk­tur­wan­dels, in Nordrhein-Westfalen seit jeher von besonderer Bedeutung. Erstmals wird in Deutschlands bevöl­ke­rungs­reichstem Bundesland eine Landtagswahl ohne aktive Stein­koh­le­zeche im Ruhrgebiet abgehalten. Der Fokus der Politik liegt auf dem Handling des Tagebaus im Rheinischen Revier, das mit dem diskutierten Importstopp fossiler Energieträger aus Russland ein neues Gewicht erhalten hat.

Der von der Kohle­kom­mis­sion zum Jahr 2038 beschlossene Braun­koh­le­aus­stieg ist durch die Ampel-Koalition auf Bundesebene in Frage gestellt worden. Erst mit dem Angriff Russlands auf die Ukraine scheint einigen Entschei­dungs­trä­gern aufgegangen zu sein, wie groß die Abhängigkeit der deutschen Wirtschaft von den entsprechenden Ener­gie­im­porten ist. Ein Importstopp bei Ausstieg aus der Nuklearenergie bis Ende 2022 und Kohleausstieg bis 2030 würde gerade der ener­gie­in­ten­siven nordrhein-westfälischen Wirtschaft einen schweren Schlag versetzen.

Schon heute gehen Stahlwerke bei Spit­zen­strom­preisen vom Netz, weil eine Produktion schlichtweg nicht mehr rentabel ist. In Zeiten höchster Ungewissheit ist es geboten, alle möglichen Freiheitsgrade zu erhöhen, um das Ziel der Klima­neu­tra­lität 2045/50 zu erreichen. Das bedeutet in der Ener­gie­pro­duk­tion alle Alternativen zu mobilisieren (Kohle­ver­stro­mung & CCS, Fracking, AKW, LNG …), zugleich müssen die unter­neh­me­ri­schen Anpas­sungs­spiel­räume erhöht werden (Liefer­ket­ten­ge­setz und Taxonomien aussetzen, Negativsteuer einführen, Schutzverträge für Ener­gie­in­ten­sive Sektoren …).

Gesell­schaft­li­cher Zusam­men­halt steht in Frage

Bereits vor der russischen Invasion in die Ukraine, die das Management des Struk­tur­wan­dels belastet und Politiker vor dramatische Entscheidungen stellt, legte eine Forsa-Umfrage in Nordrhein-Westfalen nahe: Die neue Regierung steht vor der Heraus­for­de­rung, den gesell­schaft­li­chen Zusammenhalt im Land zu wahren und die Menschen nach den Beschränkungen durch die Pandemie wieder im öffentlichen Raum zusam­men­zu­führen. Mehr als die Hälfte der Befragten geben an, das Miteinander zwischen Rhein und Ruhr wäre nachhaltig gestört. Der Politik zutrauen, mit den aktuellen Schwie­rig­keiten fertig zu werden, tut lediglich eine Minderheit.

Das Dilemma für die neu gewählten Volksvertreter liegt damit auf dem Tisch: Den russischen Aggressionen muss mit deutlichen Wirt­schafts­sank­tionen begegnet werden. Aber solche Maßnahmen müssen – damit sie langfristig wirken können – auch vor Ort vermittelbar und durchhaltbar sein. Das bedeutet im Umkehrschluss, dass der vorgezogene Kohleausstieg im Rheinischen Revier vom Tisch ist. Um die Versor­gungs­si­cher­heit in Deutschland zu gewähren, braucht es den von der Kohle­kom­mis­sion beschlossenen schrittweisen Ausstieg aus dem Tagebau bis 2038.

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