Christian Kullmann - Foto: Evonik Industries AG
Der NRW-Wirtschaftsblog
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im Westen

Chemie ist nicht alles, aber ohne Chemie ist alles nichts

Von Christian  Kullmann

Vorstandsvorsitzender Evonik Industries AG

Christian Kullmann, Vorstandsvorsitzender der Evonik Industries AG, schreibt aus der Sicht der Chemie-Branche über die aktuelle Energie-Debatte.

Nordrhein-Westfalen wählt. Am übernächsten Sonntag entscheidet sich, wer in den nächsten fünf Jahren die Geschicke unseres Landes bestimmt. Ein turnusgemäßer Termin, bekannt, seit Langem im Kalender. Landtagswahlen - für uns Wählerinnen und Wähler gewohnte Routine. Routinierte Abläufe – davon haben wir gerade nicht so viele. In der Welt passieren Dinge, die wir vor Wochen, Monaten und – wenn wir den Rückblick auf die Zeit vor der Pandemie ausweiten – noch vor Jahren für unmöglich erachtet hätten. Seit mehr als zwei Jahren halten uns die Auswirkungen der Pandemie nicht nur wirtschaftlich in Atem, seit Putins Angriffskrieg haben sich die Realitäten in und für Politik, Wirtschaft und Gesellschaft verändert. Und sie verändern sich täglich neu. Als Unternehmer wissen wir: Positionen müssen angepasst werden, wenn sich Realitäten ändern. Auch wenn die Dimensionen gerade ganz andere sind, das Ergebnis ist das gleiche: Wenn die Welt sich ändert, müssen sich auch unsere Antworten ändern.

Die Energiekosten hierzulande lagen schon immer am oberen Ende der Skala.

Seit Putins Zivilisationsbruch erleben wir aus den denkbar traurigsten Gründen eine dringend notwendige neue Prioritätensetzung. Wir müssen uns aus der Abhängigkeit von russischen Kohle-, Öl- und Erdgaslieferungen lösen. Das soll schnell gehen. Schnell darf aber nicht in kurzsichtig oder unüberlegt münden. Damit kann und darf dieses Lösen nicht von heute auf morgen geschehen. Denn dafür steht viel, zu viel auf dem Spiel. Kurzsichtig und unüberlegt - das würde ganze Wirtschaftszweige in die Knie zwingen und die Demokratien Europas, die Europäische Union insgesamt, schwächen. Und zu sozialen Verwerfungen führen. Das kann niemand wollen. Das will niemand verantworten.

Schon vor Kriegsbeginn war die Lage angespannt, die Energiekosten hierzulande lagen im internationalen Vergleich schon immer am oberen Ende der Skala. Heute sehen wir, wie der dramatische Anstieg der Energiepreise Wirtschaft und Konsumenten gleichermaßen belasten. Wettbewerbsfähigkeit und Bezahlbarkeit sind das eine – wenn auch angesichts weltweit scharfer Konkurrenz von großer Bedeutung. Versorgungssicherheit jedes Einzelnen und unternehmerisch ein Weiterproduzieren können, ist dagegen etwas völlig anderes. Inzwischen ist diese Versorgungssicherheit massiv bedroht. Das betrifft jeden Einzelnen, wenn das Ersparte an Wert verliert oder die Tankrechnung nicht mehr ohne Weiteres bezahlt werden kann. Und gesamtwirtschaftlich trifft es uns alle, wenn die Versorgung von Wirtschaft und Industrie nicht mehr gewährleistet werden kann. Allein in der Chemiebranche betrifft es bundesweit rund 1.900 Unternehmen, die über 580.000 Menschen beschäftigt. Und weit darüber hinaus wirkt: Für sämtliche Sektoren und Wirtschaftsbereiche in Deutschland werden die Vorprodukte zur weiteren Verarbeitung produziert, veredelt und geliefert. Das sichert viele Millionen Arbeitsplätze, das gewährleistet individuelle Versorgungssicherheit.

Ein Gas-Embargo wäre eine volkswirtschaftliche und eine sozialpolitische Katastrophe für unser Land

Dafür brauchen wir Gas. Als Energielieferant und als Rohstoff. Ganz plakativ: Käme es zu einem Gas-Embargo, wären die Auswirkungen verheerend, nicht nur für die Chemie. Wenn wir unsere Anlagen abschalten müssten, dann gäbe es beispielsweise keine Lacke mehr für die Autoindustrie, keine Dämmstoffe für die Bauindustrie, keine Verpackungen für Medikamente oder Substanzen und Produktionsstoffe, z. B. für Rotorblätter bei der Windenergie. Die Aufzählung ließe sich beliebig fortsetzen. Wäre unsere Volkswirtschaft ein Organismus, dann sind wir das Herz, das dem Herz-Kreislaufsystem die nötige Power und Energie bringt. Chemieanlagen sind übrigens keine Mikrowellenherde, die beliebig ein- und ausgeschaltet werden können. Kurzum: ein Gas-Embargo wäre eine volkswirtschaftliche und eine sozialpolitische Katastrophe für unser Land, für unseren ganzen Kontinent. Denn unsere Wettbewerber in Asien und Amerika produzieren nahezu unbeeinflusst von den hiesigen Krisenszenarien weiter.

Chemie wird immer Energie brauchen

Chemie ist nicht alles, aber ohne Chemie ist alles nichts. Chemie wird immer Energie brauchen. Fahrlässigerweise mussten wir zudem in den letzten Wochen lesen, dass ein „Gas-Embargo von der Industrie schon irgendwie zu verkraften sei“. Als Wirtschaftshistoriker und Unternehmer weiß ich: es gibt Grenzen von Modellen. Annahmen lassen sich nicht beliebig fokussiert auf die komplexe Realität übertragen und verantwortliches Wirtschaften kann Gesetzmäßigkeiten nicht einfach ausblenden. In der Theorie würde ein Modell scheitern, wenn es nicht klappt. In der Praxis sind die Konsequenzen härter: eine Volkswirtschaft wäre zerstört. Wer Verantwortung trägt in unserem Land, der hat die Pflicht, vernünftig und weitsichtig zu handeln – und das all das Notwendige zu bedenken.

Für Gesellschaft, Politik und Wirtschaft gilt es daher gerade in diesen geopolitisch so schwierigen Zeiten, die neuen Herausforderungen als Chancen zu sehen. Was zählt, ist der lange Blick. Dazu gehört auch, Sanktionen nicht nur kurzfristig durchhalten zu können. Denn wir brauchen eine starke Volkswirtschaft, um aus einer Position der Stärke heraus handeln zu können. Erst recht mit Blick auf die Anforderungen einer nachhaltigen Transformation. Nur so wird es für alle in die richtige Richtung gehen: mehr Nachhaltigkeit, mehr Ressourceneffizienz, besseres Wachstum und zukunfts­sichere Arbeitsplätze. Kurzum: in Richtung einer besseren Zukunft. Bei der Landtagswahl stellen sich auch dafür die Weichen.

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