Warum uns der Brexit eine Lehre sein sollte
„Die Geschichte“, schrieb einst Ingeborg Bachmann, „lehrt dauernd, aber sie findet keine Schüler.“ Haben wir Deutschen und Kontinentaleuropäer schon begriffen, dass der Brexit auch für uns eine Lehre sein sollte? Ich glaube das nicht. Wir reden zwar stets von der „historischen Zäsur“, die der Austritt Großbritanniens für die Europäische Union bedeute, halten ihn aber eigentlich für ein britisches Problem. Aus einer vermeintlich überlegenen Position blicken wir mit einer Mischung aus Mitleid, Schaulust und Schadenfreude auf die politischen Verwerfungen in Westminster. Alles sehr bedauerlich, so der Subtext unserer öffentlichen Debatten, aber diese Engländer haben es ja nicht anders gewollt. Möge der drohende Abstieg des ehemals großen Britanniens jedem EU-Skeptiker eine Lehre sein.
Wenn das die Erkenntnis ist, die wir aus dem Brexit ziehen, dann hat die Geschichte einmal mehr keine Schüler gefunden. Mit Großbritannien wird nicht irgendein Land die Europäische Union verlassen, sondern die zweitgrößte Ökonomie des Kontinents. Die Wirtschaftskraft, die die EU verliert, ist so groß wie jene der zwanzig kleinsten Mitgliedsstaaten zusammengenommen. Es ist, als würden zwanzig von 28 Ländern gleichzeitig austreten. Nicht zuletzt: Mit Großbritannien geht einer der engsten Partner Deutschlands, es geht das Patenland Nordrhein-Westfalens und es geht ein Vorbild für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Es ist ein Desaster. Auch für uns.
Deshalb müssen auch wir uns die entscheidenden Fragen stellen: Wer hat für den Brexit gestimmt – und warum? Wichtiger noch: Kann es sein, dass die Motive der Leave-Voters eben nicht „very british“, sondern universell sind und somit auch in anderen Ländern ihre fatale Wirkung entfalten könnten? Auf den ersten Blick scheint das nicht der Fall zu sein. Der Brexit wurde von national-konservativen Eliten ins Werk gesetzt, die mit Hilfe der Murdoch-Presse übelste Lügen in Millionenauflage verbreiteten. Diese Eliten glauben tatsächlich, dass ein Britannien ohne lästige EU-Regeln, ohne Verbraucherschutz, ohne Umwelt- oder Sozialstandards, dafür aber mit den niedrigsten Steuern der OECD-Welt, in die glorreiche Zeit des Empire zurückkehren könnte.
Das Eliten-Versagen ist der genuin britische Faktor des Brexits: Hybris und (Macht-) Gier auf der einen, Naivität (Cameron) und Untätigkeit (Corbyn) auf der anderen Seite. Aber das allein erklärt noch nicht die Niederlage der Pro-Europäer. Um zu verstehen, warum die Große Koalition der Vernünftigen unterlag, braucht es einen zweiten Blick. Und dann entdeckt man den universellen Grund für den Brexit: Soziale Ungleichheit.
"Haben wir Deutschen und Kontinentaleuropäer schon begriffen, dass der Brexit auch für uns eine Lehre sein sollte? Ich glaube das nicht."
Die Regierung von David Cameron hatte im Zuge der Wirtschaftskrise von 2009 und 2010 drastische Sparmaßnahmen bei Sozialleistungen und öffentlichen Dienstleistungen durchgesetzt. Je höher die Arbeitslosigkeit und je niedriger der Lebensstandard in einer Kommune war, desto härter waren ihre Einwohner von den Kürzungen betroffen. Sie betrugen in einigen Städten bis zu 46 Prozent. Dennis Novy, Sascha Becker und Thiemo Fetzer (alle drei sind Professoren für Ökonomie an der Universität Warwick) konnten nun in einer Analyse der Abstimmungsmuster des Brexit-Referendums nachweisen, dass die Zustimmung zum EU-Austritt umso höher ausfiel, je stärker eine Stadt von den Haushaltskürzungen der Londoner Regierung betroffen war. Gegen die EU zu stimmen, war für die Menschen dort eine Möglichkeit, um gegen eine Politik zu protestieren, die ihre sozialen Nöte missachtet und geringschätzt. Dass sie damit jenen national-konservativen Fanatikern zum Sieg verhalfen, die das untere Drittel der Gesellschaft noch mehr verachten als die Banker in der City of London, war ihnen entweder nicht klar oder sie nahmen es billigend in Kauf.
Kurzum: Die Politik der Entstaatlichung und Austerität brachte der Brexit-Kampagne den Sieg.
„Taking back control!“ – der Schlachtruf der Brexiteers – war hervorragend geeignet, um sowohl die Skepsis gegen Einwanderung als auch den Protest gegen ökonomische Benachteiligung aufzugreifen und gegen die EU zu richten. Dabei ist „Taking back control!“ eigentlich eine emanzipatorische oder gar linke Losung, weil sie zu demokratischer Selbstermächtigung aufruft. Wenn die Sozialdemokratie dazu nicht aufruft, stoßen andere in die Lücke vor.
Im Falle Großbritanniens war die EU das falsche Ziel für sozialen Protest. In anderen Ländern wäre sie das nicht. Wo auf europäischen (und deutschen) Druck hin „Austerität“ zur Maxime der Haushalts- und Wirtschaftspolitik wird, gewinnen die Populisten und Protektionisten. In Frankreich erhielten Anti-Europäer im ersten Wahlgang der Präsidentschaftswahlen von 2017 über 40 Prozent der Stimmen. In Italien bilden Rechts- und Linkspopulisten schon eine Anti-EU-Regierung.
Wer jetzt auch noch Steuersenkungen für Unternehmen und Wohlhabende auf breiter Front fordert, die am Ende wieder zu Lasten des Sozialstaates und staatlicher Investitionen gehen müssen, schadet Europa. Das Gegenteil ist richtig: Die europäischen Steueroasen müssen trocken gelegt, Steuerdumping unterbunden und ein fairer Wettbewerb ermöglicht werden.
Den Binnenmarkt gibt es nicht umsonst. Der Preis ist ein starker Sozial- und Steuerstaat. Wer ihn nicht bezahlen will, sollte auch auf Kunden, Lieferanten und Absatzmärkte verzichten können. Andernfalls geht die Rechnung nicht auf. #Brexit.