Der NRW-Wirtschaftsblog
Klartext
im Westen

Die Spielregeln der Demokratie

Von Jochen Trum

Stellvertretender Chefredakteur der WDR-Landesprogramme

Jochen Trum, stellvertretender Chefredakteur der WDR-Landesprogramme, blickt im NRW-Wirtschaftsblog auf die Herausforderungen 2023.

Nordrhein-Westfalen steht vor immensen Aufgaben, 2023 dürfte ein Schlüsseljahr werden. Bei allem Streit um den richtigen Weg sollten wir das Kind nicht mit dem Bade ausschütten.

Vor einhundert Jahren erlebte Deutschland ein Schicksalsjahr. Die politischen Herausforderungen waren 1923 derart groß, dass es aus heutiger Sicht erstaunlich ist, wie die junge Demokratie der Weimarer Republik diese Bewährungsprobe überstand. Nach der Krise aus Ruhrbesetzung, Hyperinflation und Putschversuch folgten die vergleichsweise stabilen mittleren Jahre, was gern übersehen wird. Ganz so schwach, wie ihr häufig nachgesagt wird, war die Republik damals nicht.

Einhundert Jahre später steht das Land womöglich erneut vor einem entscheidenden Jahr, wirtschaftlich, politisch, gesellschaftlich. Die Welt ist unübersichtlich wie lange nicht, die Krisensymptome allerorten sind nicht zu übersehen. Die Politik, in Nordrhein-Westfalen zuletzt die Haushaltspolitik, wirkt gelegentlich überfordert, die Gesellschaft bisweilen schrill und nicht nur die Wirtschaft fragt sich, ob das Land seinen Wohlstand und seine politische Stabilität wird halten können. Die schwarz-grüne Koalition hat das anspruchsvolle Ziel formuliert, aus NRW die erste klimaneutrale Industrieregion des Kontinents zu machen. Gemessen daran, wird sie noch mächtig nachlegen müssen.

Der Kompromiss als Zwitterwesen

Das alles ließe sich vielleicht mit größerer Zuversicht und Gelassenheit betrachten, gäbe es nicht Anzeichen dafür, dass der Bundesrepublik eine zentrale Fähigkeit abhanden zu kommen droht: die zum rechten Umgang mit dem politischen Kompromiss. Das zeigt sich übrigens beileibe nicht nur in der Klimapolitik, die Pandemiejahre illustrieren das genauso anschaulich wie die fiebrigen Debatten zu kulturellen Streitthemen.

Der Kompromiss war schon immer ein Zwitterwesen. Seine Notwendigkeit war unbestritten, sein mitunter fader Beigeschmack aber auch. Er diente einem höheren Zweck. Sternstunden der Kompromissfähigkeit führten sogar dazu, dass sich alle Beteiligten als Sieger fühlten. Die Kunst des Kompromisses ist für eine Demokratie lebensnotwendig, will sie nicht in ewigen Grabenkämpfen verharren oder einfach auf der Stelle treten.

Doch was sind Kompromisse wert, wenn sie bereits infrage gestellt werden, obgleich die Tinte noch nicht trocken ist? Was sind demokratische Entscheidungen wert, wenn Teile der Gesellschaft mit großer Geste erklären, dass sie für sie nicht gelten? Was gelten rechtsstaatliche Verfahren, wenn sich Gruppen in einem Akt der Selbstermächtigung dogmatisch über sie erheben?

Ein weiteres Jahr Stresstest

Die Aktivisten der „Letzten Generation“ kündigen für Februar weitere Proteste und Blockaden an. Um zu erahnen, welche Reaktionen das hervorrufen wird, braucht man kein Prophet zu sein. Es zeigt aber auch, wie sehr die Sichtweisen auseinanderstreben. Denn am selben Tag erklärt Ministerpräsident Hendrik Wüst, 2023 vor allem dafür sorgen zu wollen, dass wieder mehr Investitionen ins Land kommen. Wachstumskritik hier, Wachstumsglaube dort. Man spürt förmlich, dass diese Denkweisen nur noch schwer übereinander passen. Für Staat und Gesellschaft dürfte dieses Jahr zu einem weiteren Stresstest werden. Die Grünen um Mona Neubaur merken bereits jetzt, wie die Differenz von Anspruch und Wirklichkeit sie förmlich zerreißt. 

Dass eine Demokratie Demokraten braucht, ist die gängige Formel seit Weimar. Und es ist auch klar, dass die Möglichkeiten des Staates begrenzt sind, seinen Bürgern ihre demokratischen Überzeugungen aufzuzwingen. Der Wille zum gemeinsamen Zusammenleben muss aus der Gesellschaft selbst kommen, er lässt sich nicht per Gesetz verordnen. Genauso steht es mit den Spielregeln und Verfahren, auch den ungeschriebenen, ohne die nichts funktionieren würde. Schon während der Französischen Revolution bemerkten weitsichtige Geister, dass es nicht gutgehen könne, wenn die politischen Klubs in Paris mit immer radikalerem öffentlichen Getöse die Legitimität der Nationalversammlung untergraben. Damit ist auf Dauer kein Staat zu machen. Und wir wissen inzwischen auch, dass der Weg von der Verächtlichmachung demokratischer Institutionen bis zum Sturm auf Parlamente gedanklich ein kurzer ist.

Die Demokratie nicht diskreditieren

Natürlich steht Deutschland, steht auch Nordrhein-Westfalen vor epochalen Herausforderungen. Irgendwann muss Schluss sein mit dem Verfeuern von Kohle, Gas und Öl. Besser heute als morgen. Das gilt weltweit, das gilt aber eben auch für das Industrieland Nordrhein-Westfalen. Ungeduld, Wut und Verzweiflung vieler junger Menschen sind nicht nur verständlich, sie sind notwendig. Wenn unsere Lebensgrundlagen vor die Hunde gehen, ist alles andere Makulatur. Das stimmt. Aber was ist gewonnen, wenn wir beim Ringen um den richtigen Weg das Kind mit dem Bade ausschütten? So wie es ein Gebot der Stunde ist, die Bedingungen unserer physischen Existenz zu sichern, so sehr sollte uns auch daran gelegen sein, unsere gesellschaftlichen Lebensgrundlagen zu erhalten. Dazu zählt auch, Demokratie, Parlamentarismus und Rechtsstaatlichkeit nicht zu diskreditieren, selbst dann nicht, wenn man mit Entscheidungen unglücklich ist. Diese Institutionen sind die Garanten dafür, dass die Gesellschaft insgesamt auch denkbar große Aufgaben meistert.

Streit ist gut und nicht jeder Zwist muss damit enden, dass sich die Kombattanten schließlich in den Armen liegen. Eine gute Demokratie braucht die Auseinandersetzung und verträgt sie auch. Zu große Sehnsucht nach dem Konsens kann auch hemmen. Aber die segensreiche Wirkung des Kompromisses sollte dabei nicht auf der Strecke bleiben.

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Jochen Trum

Stellvertretender Chefredakteur der WDR-Landesprogramme

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