Der NRW-Wirtschaftsblog
Klartext
im Westen

Die Zeitenwende kann eine Chance für unser Land sein

Von Moritz Döbler

Chefredakteur Rheinische Post

Der Chefredakteur der Rheinischen Post, Moritz Döbler, schreibt im NRW-Wirtschaftsblog über Krisen und Chancen für unser Land.

Klartext heißt, unangenehme Wahrheiten auszusprechen. Trotzdem wird dieser Blog-Beitrag am Ende in Zuversicht ausklingen. Am Anfang steht aber die Krise, also die viel zitierte „Zeitenwende“, die der Bundeskanzler kurz nach Kriegsbeginn ausrief. Der Begriff bezeichnet nicht ein Regierungsprogramm, sondern eine tiefgreifende globale Veränderung, die längst nicht abgeschlossen ist. Wenn Olaf Scholz gefragt wird, warum er die Zeitenwende nicht zügiger umsetzt, steckt darin ein fundamentales Missverständnis.

Als der Einmarschbefehl an die russischen Truppen im Februar erfolgte, habe ich geschrieben, die Welt sei jetzt eine andere – und: „Wir erleben einen markanten Wendepunkt, wie es der Fall der Mauer 1989 in Berlin oder auch das Attentat auf den österreichischen Thronfolger Franz Ferdinand 1914 in Sarajevo war. Und genau wie damals bei diesen beiden historischen Ereignissen ist zunächst die ganze Tragweite noch nicht zu erkennen. Die Zeitenwende lässt sich spüren, aber noch nicht ganz deuten.“

Wie wird die künftige Weltordnung aussehen?

Und das ist bis heute, also mehr als neun Monate später, immer noch so. Wie die künftige Weltordnung, das Kräfteverhältnis zwischen China und den USA, zwischen Europa und Russland in zehn Jahren aussieht, lässt sich nicht abschätzen. Und sicher scheint zu sein, dass der mörderische Krieg in der Ukraine noch lange dauern kann, weil beide Seiten festsitzen. Was soll das denn eigentlich heißen, die Ukraine müsse den Krieg gewinnen? Dass Russland eine Niederlage einräumt und sich zurückzieht, lässt sich nicht allen Ernstes annehmen, jedenfalls nicht auf absehbare Zeit. Die meisten Kriege enden nicht mit einer Kapitulation, sondern durch Verhandlungen, aber eben erst, wenn beide Seiten sich davon etwas versprechen.

Also fangen wir bei uns an: Das deutsche Wirtschaftswunder, seine Exportstärke und das Wachstum der vergangenen Jahre, ja Jahrzehnte war getragen von niedrigen Energiekosten, einem technologischen Vorsprung in vielen Sektoren und Effizienz in der Produktion, sodass die relativ hohen Arbeitskosten kompensiert werden konnten. „Wir müssen um so viel besser sein, wie wir teurer sind“, sagte Angela Merkel gerne.

Aber diese Zeit ist vorbei: Die Energiekosten sind dramatisch gestiegen und werden – das kann keine staatliche Bremse ändern – hoch bleiben. Erst wenn die Wende hin zu Wind und Sonne weitgehend gelungen ist, also doch frühestens in fünf, eher zehn Jahren, wird Energie wieder günstiger sein. Der technologische Vorsprung schrumpft, die Arbeitskosten steigen. Kurzum, das maßgeblich von der Industrie getragene deutsche Geschäftsmodell bröckelt gerade dramatisch.

Deutschland kann bei Industrie 4.0 punkten

In der digitalen Welt hat Deutschland längst den Anschluss verloren, auch wenn der Computer einst in Berlin erfunden wurde. Aber die Zukunft der Kommunikation, des Einzelhandels, des autonomen Fahrens, um nur drei Beispiele zu nennen, wird im Silicon Valley, in Seattle und besonders in Shenzhen geprägt. (In dem Zusammenhang empfehle ich das neue Buch des China-Kenners Frank Sieren über „die junge Megacity, die unsere Welt verändert“, wie es im Untertitel heißt.) Deutschland kann bei Industrie 4.0 punkten, also der digitalen Vernetzung in der Fertigung – muss es wegen der hohen Arbeitskosten und der demographischen Entwicklung aber auch.

Daneben tut sich für die ingenieursgetriebene deutsche Industrie eine weitere Chance auf: Die Technologie für die Produktion erneuerbarer Energien gewinnt in Zeiten des globalen Kampfes gegen den Klimawandel an Bedeutung. Mag sein, dass die jüngste Uno-Klimakonferenz in zentralen Punkten gescheitert ist, weil China und Saudi-Arabien es so wollten. Aber es herrscht eine enorme und steigende globale Nachfrage nach Anlagen zur Stromproduktion aus klimafreundlichen Quellen und technologische Lösungen für Infrastruktur, bei der die deutsche Industrie noch alle Chancen hat.

Europäisch denken

Ja, diese Gedanken haben etwas Romantisches, weil sie die Versöhnung von Ökonomie und Ökologie als Ziel setzen, wie es Siemens und die Grünen gleichermaßen beschwören. Bedauerlich für den Standort ist, dass in Deutschland Atomtechnologie kaum mehr erforscht und nicht mehr produziert wird. Es war eine politische Entscheidung, die von der breiten Mehrheit der Bevölkerung seit vielen Jahren getragen wird, die AKW zu schließen. Aber andere Nationen kommen zu einem anderen Schluss, nicht nur totalitäre Regimes, sondern eigentlich alle anderen Industrienationen. Diese Nachfrage zu bedienen, erst recht, wenn sie sich mittel- und langfristig auf neuartige, kleinere Reaktoren richten könnte, wäre eine Chance für deutsche und europäische Hersteller.

Womit ein weiterer Schlüsselbegriff gefallen ist: Europa. Wäre die EU eine gemeinsame Volkswirtschaft, stünde sie nahezu auf Augenhöhe mit den USA und China. Und deswegen ist es so zwingend, europäisch zu denken, denn auch Deutschland wird auf Dauer zu klein sein, um im globalen Wettbewerb und in Handelskriegen zu bestehen. Klartext im Westen – so heißt dieser Blog glücklicherweise mit vollem Namen. Denn gerade hier im Westen, nicht weit von Belgien, den Niederlanden und Frankreich, ist Europa längst gelebte Realität. Und wenn eine Region Strukturwandel kann, dann die Region zwischen Rhein und Ruhr in der Mitte des Kontinents. Und so lässt sich die Zeitenwende zwar nicht umsetzen, weil sie kein Programm ist, sondern ein Wendepunkt, dessen Folgen noch nicht ganz zu überblicken sind – aber in ihr lassen sich schon jetzt Chancen finden, erst recht im Westen.

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Moritz Döbler

Chefredakteur Rheinische Post

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