Hendrik Wüst forderte kürzlich, der Bundeskanzler solle die Flüchtlingspolitik zur „Chefsache“ machen. Das war bemerkenswert. Nicht, weil der NRW-Ministerpräsident kundtat, dass Olaf Scholz ein Problem für ihn lösen soll. Das macht Herr Wüst jeden Tag. Seine Forderung ließ deshalb aufhorchen, weil bei ihm zuhause in Nordrhein-Westfalen gar nichts Chefsache ist. Nicht die Bildungspolitik, obwohl 10.000 Lehrkräfte fehlen und 20 Prozent der Viertklässler in NRW nicht lesen können; nicht die die Wohnungspolitik, obwohl sich immer mehr Menschen das Wohnen in ihrer Heimat nicht mehr leisten können; und auch nicht die Wirtschaftspolitik, obwohl Energiepreise und Fachkräftemangel die industrielle Substanz unseres Landes angreifen. Mit Problemen möchte Hendrik Wüst nichts zu tun haben. Zuständig sind immer nur andere, in der Regel „Berlin“. Niemand soll den Ministerpräsidenten an Versprechen messen können. Deshalb gibt es in Nordrhein-Westfalen keine Regierungsagenda oder auch nur ein einzelnes Regierungsprojekt, das mit seinem Namen verbunden wäre.
Was es von ihm allerdings reichlich gibt, sind schöne Bilder: aus Paris, aus Brüssel, mit Sportlern, Künstlern, von Ordensverleihungen oder vom Bäumepflanzen. Hendrik Wüst ist die meiste Zeit mehr ein Insta-Präsident als ein Ministerpräsident. Das ist das Grundproblem seiner ganzen Regierung: Ziele, für die man Konflikte durchstehen müsste, werden gar nicht erst angegangen. Was keine schönen Fotos produziert, hat keine Priorität.
Doch man sollte Eitelkeit nicht mit Schönheit verwechseln und Verantwortungsscheu nicht mit Besonnenheit: Der schwarz-grüne Politikstil passt nicht in unsere Zeit. Dafür ist die Lage zu ernst, dafür sind die Herausforderungen zu groß. Landespolitik kann eine Menge erreichen, wenn sie denn den Mut hat, politische Risiken einzugehen, Konflikte auszuhalten und neue Wege zu gehen. Hier sind drei Vorschläge für mutige Reformen für Nordrhein-Westfalen.
1. Die Renaissance der Industriepolitik: Ein Stabilitäts- und Innovationsfonds für den Mittelstand
Trotz guter Rahmenbedingungen werden viele mittelständische Unternehmen die ökologische und digitale Transformation nicht aus eigener Kraft schaffen können. Dazu fehlt es an Zeit und es fehlt an Kapital.
Deshalb braucht NRW einen Stabilitäts- und Innovationsfonds wie ich ihn hier umrissen habe (NRW-Wirtschaftsblog: Für die Arbeit von morgen).
Durch strategische Unternehmensbeteiligungen würde dieser Fonds das Eigenkapital der mittelständischen Unternehmen stärken, ihre Unabhängigkeit sichern und Investitionsrisiken verringen. Er mobilisiert das Kapital, das unsere „Hidden Champions“ brauchen, um schnell in neue ökologische und digitale Produktionsprozesse investieren zu können.
2. Erneuerbare Energie: Deutschlandgeschwindigkeit für NRW
Der russische Überfall auf die Ukraine und die Energiekrise haben es überdeutlich gemacht: Wir müssen den ökologischen und technologischen Wandel noch viel schneller angehen als ohnehin geplant. Jedes Windrad ist jetzt auch ein Stück Sicherheit. Jede Fotovoltaikanlage ist jetzt auch ein Stück Unabhängigkeit. Je stärker wir die erneuerbaren Energien ausbauen, desto schneller werden die Energiepreise stabilisieren können. Mehr noch: Die Verfügbarkeit von regenerativer Energie wird immer öfter zu einem K.O.-Kriterium bei Investitionsentscheidungen. Doch in NRW kommt der Ausbau der Erneuerbaren Energien nicht voran. Hätte die SPD im Landtag nicht mit einem eigenen Antrag Druck gemacht, gäbe es noch immer die Tausend-Meter-Regel beim Re-Powering (Ja tatsächlich: Die alte Kohle-Partei SPD bringt die Grünen beim Ausbau der Erneuerbaren auf Trab. Wie sich die Zeiten ändern). Doch das reicht nicht. Die starre Abstandsregel muss auch beim Neubau weg. Für den Ausbau der Erneuerbaren brauchen wir das neue Deutschland-Tempo auch für NRW.
3. Abschaffung von Kita- und OGS-Gebühren: Familien entlasten, Fachkräfte gewinnen
Warum sollten Eltern in Teilzeit Stunden aufstocken, wenn sie dann nur für die Kinderbetreuung arbeiten? Die Kita-Gebühren sind fast überall in NRW eine große Belastung für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mit durchschnittlichen Einkommen. Ihre Abschaffung würde nicht nur junge Familien um einige Tausend Euro im Jahr entlasten, sie würde auch die Bereitschaft zur Mehrarbeit im Betrieb belohnen. Gleiches gilt auch für OGS-Gebühren und die Kosten für die Mittagessen in Kita und Schule. Entlastung von Familien und mehr Anreize für Erwerbsarbeit gehen also Hand in Hand.
Das waren jetzt nur drei Vorschläge für eine mutige Reformpolitik für NRW. Es gäbe nur viele mehr zu nennen: gegen die Wohnungsnot und mehr Mieterschutz, gegen den Unterrichtsausfall, für bessere Berufsschulen und eine grundlegend neue Finanzierung unseres Bildungssystems. Jeder dieser Vorschläge würde Widerstände hervorrufen, hätte politischen Risiken und wäre nicht umsonst. Aber es gäbe so viel zu gewinnen. Die Zukunft gehört den Mutigen!