Die sogenannten vier Dimensionen der Transformation – Digitalisierung, Demografie, Dekarbonisierung und (De-)Globalisierung – stellen unsere Industrie vor große Herausforderungen und prasseln parallel auf unsere Branchen ein.
Der Ausstieg aus der Braunkohle und damit aus einem günstigen Energieträger, der Fachkräftemangel, der Krieg in der Ukraine mit den energie- und geopolitischen Folgen, wegbrechende Lieferketten und das Fit for 55-Paket der Europäischen Union haben erhebliche Auswirkungen auf die Branchen der IGBCE, die in der Regel energieintensiv sind.
In der chemischen Industrie sind die Zusammenhänge höchst komplex. Dabei ist der Verbundstandort die Stärke der deutschen Industrie. Auf kleinstem Raum gibt es unzählige Produktionsstränge, die ineinandergreifen, sich gegenseitig bedingen und beeinflussen. Fällt ein Unternehmen aus dem Verbund aus, kann das immense Auswirkungen auf die übrigen Unternehmen haben. Wenn sich zum Beispiel die energieintensive Grundstoffchemie aus dem Verbund rauszieht, gäbe es für die Betriebe in der Veredelung keine Verbundvorteile mehr. Das wiederum würde zu einer Deindustrialisierung führen, womit der Garant für unseren gesellschaftlichen Wohlstand – unsere Industrie – ins Wanken käme.
Für einen Transformationsfonds, der nicht nur Leuchttürme und Symbolik bedient, sondern Transformation in der Fläche ermöglicht
Im Jahr 2023 beobachten wir mit großer Sorge, dass getroffene Investitionsentscheidungen für unsere Standorte zurückgenommen und Zukunftsentscheidungen woanders getätigt werden. Schlimmeres können wir dank einer starken Mitbestimmung, durch innovative, motivierte und gut ausgebildete Beschäftigte und einen sozialpartnerschaftlichen Umgang verhindern.
So langsam brauchen wir aber auch klare Signale von Seiten der Politik, die über Prosa hinausgehen. Wir brauchen einen Transformationsfonds, der nicht nur Leuchttürme und Symbolik bedient, sondern Transformation in der Fläche ermöglicht. Wir müssen neue Verfahren entwickeln und in die Marktreife bringen. Es wird nicht reichen, ausschließlich Wasserstoff-Hochofen zu fördern und industrielle Transformation als abgeschlossen zu betrachten. Die Hoffnung, dass wir CO2- und energieintensive Produktion ins Ausland verlagern und die Veredelung vor Ort halten können, ist ein Irrglaube. Es ist dann nur eine Frage der Zeit, bis sich andere Länder dann selbst auf den Weg machen, um veredelte Produkte zu exportieren – und zwar ohne eine demokratische Konditionierung und zu deutlich schlechteren Bedingungen für Mensch und Natur. Das haben wir aus der „Wandel durch Handel“-Politik mit China gelernt.
Wir benötigen eine langfristig stabile und wettbewerbsfähige Energieversorgung für Industrie und Privathaushalte
Wir brauchen eine langfristige Strategie zur Rohstoffsicherung, die auch eigene Produktionskapazitäten für systemkritische Produkte und Grundstoffe, wie z.B. Wasserstoff oder Ammoniak beinhaltet. Daher ist es gut, dass sich nun die Bundesländer auf den Weg machen, um eine Rohstoffstrategie zu entwickeln und das Thema Kreislaufwirtschaft auf die politische Agenda zu heben.
Wir benötigen eine langfristig stabile und wettbewerbsfähige Energieversorgung für Industrie und Privathaushalte und wir brauchen massive Investitionen in unsere Infrastruktur: Straßen, Schienen, Erneuerbare Energien, Stromtrassen, Pipelines und schnelles Internet. Nur so können wir unseren Standort attraktiv halten.
Und natürlich müssen auch die Unternehmen Geld in die Hand nehmen und in die deutschen Standorte investieren. Immerhin profitieren sie hier nach wie vor von sehr guten harten und weichen Standortfaktoren. Sie sollten aber nicht dabei alleine gelassen werden. Jedes Unternehmen, das sich zum Standort, zur Mitbestimmung und zur Tarifbindung bekennt, muss von Klimaschutzdifferenzverträgen und einem Transformationsfonds profitieren und notwendige Zukunftsinvestitionen tätigen können.
Richtige Weichen stellen, Transformation aktiv gestalten
Für die Priorisierung der Mittelverteilung könnte ein Beirat aus Praktiker*innen eingesetzt werden. Beispielsweise in der chemischen Industrie braucht es einen ganzheitlichen Blick auf Produktionsprozesse, soziale und wirtschaftliche Auswirkungen einzelner Produktstränge sowie technische Detailkenntnisse. Die IGBCE ist bereit, daran mitzuwirken.
Ich bin davon überzeugt, dass wir die vielfältigen Herausforderungen meistern und ein starkes Industrieland bleiben können. Hierfür müssen wir jetzt die richtigen Weichen stellen und die Transformation aktiv gestalten. Lassen Sie es uns gemeinsam anpacken!