Wir leben in turbulenten Zeiten. Mitten im Spannungsfeld vieler weltpolitischer Krisenherde steht Europa vor einem ganz entscheidenden Jahr. Da ist zunächst der Brexit: Käme es, wie von vielen befürchtet, am 29. März dieses Jahres zu einem „harten“ EU-Austritt der Briten, würde dies unweigerlich dramatische Auswirkungen auf die deutsche Wirtschaft haben. Ungeachtet der selbst heute noch schwer zu beziffernden Kosten trifft uns Deutsche vor allem der Umstand, dass mit Großbritannien ein wichtiger Verbündeter und verlässlicher Partner die Europäische Union verlässt, dessen Wertegerüst und wirtschaftliche Grundüberzeugung zu Wettbewerb und Marktwirtschaft jener der Deutschen ähneln.
Ungeachtet des politischen Desasters trifft der EU-Austritt der Briten Europa auch zu einem ökonomisch ungünstigen Zeitpunkt. Die Schulden- und Finanzkrise ist längst nicht überwunden, zu allem Überfluss schickt sich die neue Regierung Italiens an, mit einer Politik überbordender Schuldenmacherei das Miteinander in der Union zusätzlich auf eine harte Probe zu stellen. Hinzu kommen die Proteste in Frankreich gegen die notwendige Reformpolitik von Präsident Macron. Erwiese sich die Grande Nation als reformunfähig, wäre dies nicht nur ein Rückschlag für die französische, sondern auch für die europäische Wirtschaft insgesamt. Und was mich mit besonders großer Sorge erfüllt: Europagegner, Populisten und Extremisten haben in jüngerer Zeit in vielen Ländern Europas – auch bei uns in Deutschland – enorm viel Zulauf erhalten.
In dieser Gemengelage findet in diesem Jahr die Europawahl statt. Wenn am 26. Mai die Europäer an die Wahlurne treten, dann fällen sie eine Richtungsentscheidung. Ministerpräsident Armin Laschet hat völlig recht, wenn er die Bürger Nordrhein-Westfalens dazu aufruft, die Europawahlen zu einem Referendum für Europa zu machen. Es geht um die Zukunft unseres Kontinents. Wir alle sollten uns in den nächsten Monaten bewusst machen, was wir der europäischen Einigung zu verdanken haben. Denn Europa ist und bleibt das größte Friedens- und Freiheitsprojekt des 20. und 21. Jahrhunderts.
Um es noch einmal in Erinnerung zu rufen: Auf Basis gemeinsamer Werte hatten sich die Mitgliedstaaten Europas ökonomisch so eng miteinander verflochten, um kriegerische Auseinandersetzungen schlicht unmöglich zu machen. Gemeinsames Handeln in Wirtschaftsfragen hat einst national denkende Volkswirtschaften davon überzeugt, dass ein Miteinander aller Industrienationen zu mehr Wohlstand für alle führen wird. Diese wirtschaftliche Integration hat sich Schritt für Schritt zum weltweit größten Binnenmarkt für eine halbe Milliarde Menschen entwickelt, der ihnen den freien Verkehr für Personen, Waren, Dienstleistungen und Kapital gewährt. Wir als EU-Bürger können uns jetzt entscheiden, wohin wir reisen, wo wir leben, wo wir arbeiten oder wo wir studieren wollen. Welch unfassbares Geschenk!
Um den gemeinsamen Markt noch sattelfester zu machen, haben wir Europäer uns eine gemeinsame Währung gegeben. Allen Unkenrufen zum Trotz ist der Euro eine stabile und sichere Währung geblieben. Er genießt auf den internationalen Märkten und bei den Unternehmen großes Vertrauen. Welch kluge Entscheidung!
"Ich bleibe dabei: Die europäische Idee ist eine Erfolgsgeschichte. Wir brauchen auch in Zukunft ein vereintes Europa."
Für Nordrhein-Westfalen, seine Unternehmen und seine Beschäftigten ist die Europäische Union die wichtigste Quelle des Wohlstands: Rund 65 Prozent aller Ausfuhren gehen in die Länder der EU. Acht der zehn wichtigsten Zielländer für unsere Erzeugnisse liegen in der EU. Und: Nordrhein-Westfalen ist auch Deutschlands Spitzenreiter für EU-Einfuhren – fast ein Viertel aller bundesweiten EU-Importe finden ihr Ziel in NRW.
Gerade wir müssen also ein existenzielles Interesse an einer starken Europäischen Union haben. Machen wir uns nichts vor: Kein einziger Mitgliedstaat der Europäischen Union – auch Deutschland nicht – ist allein so groß und stark, um als Global Player im 21. Jahrhundert erfolgreich zu sein. Nur als einiges Europa haben wir die Chance, mit den führenden Wirtschaftsmächten der Welt mitzuhalten, auch politisch auf Augenhöhe wahrgenommen zu werden – und nicht in der Bedeutungslosigkeit zu versinken.
Dies aber stünde zu befürchten, käme es nach der Europawahl zu einer Rückkehr zu nationalen Alleingängen und Protektionismus. Gerade deshalb erwarte ich von den demokratischen Parteien dieses Landes, für die Werte Europas einzustehen und massiv zu werben. Dieser Führungsaufgabe ist so mancher Politiker in den letzten Jahren nicht gerecht geworden und hat bei unbequemen Entscheidungen die Verantwortung lieber auf Brüssel abgewälzt. Dies mag ein Grund dafür sein, dass sich immer mehr Menschen den Populisten im eigenen Land zuwenden und ihren tumben Parolen mehr trauen als einer an Fakten orientierten Politik. Viel zu wenig wird hinterfragt, ob diese nationalistischen Bewegungen tatsächlich zukunftsfähige Lösungen anbieten.
Umso mehr erwarte ich jetzt von einer verantwortungsvollen Politik, dass Europa wieder groß in den großen Themen gemacht wird und sich auf die Kernfragen einer gemeinsamen Zukunft besinnt: Sicherheit, Migration, Digitalisierung, Energie-Binnenmarkt, Klimawandel, europäische Verkehrspolitik, Wachstum und Beschäftigung – das sind die großen Herausforderungen, deren Bewältigung heute und für die Zukunft der Europäischen Union wichtig sind.
Ich bleibe dabei: Die europäische Idee ist eine Erfolgsgeschichte. Wir brauchen auch in Zukunft ein vereintes Europa. Es muss gelingen, das Vertrauen der Menschen in die Europäische Union wieder deutlich zu stärken. Mehr denn je und dringender denn je müssen wir als Bürger Europas jetzt an der Wahlurne beweisen, dass uns eine gemeinsame europäische Politik wichtig ist, die Sicherheit, Arbeitsplätze und Wohlstand schafft. Und wir als Deutsche müssen begreifen: Wohl keinem anderen Land würde ein weiteres Auseinandergehen Europas so sehr schaden wie uns!