Die Europäische Einigung ist ein beispielloses Wohlstandsprojekt – gerade auch für uns hier in Nordrhein-Westfalen. Kein anderes Bundesland profitiert so sehr von der Europäischen Union wie wir. Wenn 65 Prozent aller Exporte unseres Landes in die EU-Partnerländer gehen, sichert das viele hunderttausende Arbeitsplätze. Wir können froh und stolz darauf sein, dieses Europa zu haben.
Im Europa-Wahlkampf wird vielerorts für ein soziales Europa geworben. Ganz ehrlich: Dieser Kontinent ist es längst. Wir Europäer stellen sieben Prozent der Weltbevölkerung, erwirtschaften aber 25 Prozent der weltweiten Wirtschaftsleistung. So weit, so gut. Doch nur wenige scheinen zu wissen, dass Europa auch für 40 Prozent der globalen Sozialausgaben verantwortlich zeichnet – Tendenz eher steigend.
Allein in den letzten zehn Jahren hat die Europäische Union die Sozialstandards massiv erhöht. Als Unternehmer stehe ich dazu, weil ein soziales Europa nach meinem Grundverständnis zwingende Voraussetzung für ein gemeinsames Europäisches Haus ist, in dem sich alle gut aufgehoben fühlen. Dann erwarte ich aber auch, dass in der öffentlichen Debatte nicht so getan wird, als wäre dieser Kontinent tiefstes Prekariat. Mehr als 60 Richtlinien und Verordnungen zur Europäischen Sozialpolitik sind mehr als nur ein Beleg dafür, dass dies nicht so ist.
Wer in Deutschland höhere Sozialstandards für andere EU-Länder fordert, verhält sich aus meiner Sicht protektionistisch. Denn: Konkurrenz-Produkte aus dem europäischen Ausland würden bei uns unweigerlich teurer, die Unternehmen verlören an Wettbewerbsfähigkeit. Unverständlich sind mir auch Forderungen aus reicheren Ländern nach Eingriffen in die Arbeitnehmerfreizügigkeit. Für viele Unternehmen aus ärmeren Ländern wäre dies eine unüberwindbare Eintrittsbarriere und würde dort Arbeitsplätze gefährden. Ich halte das für überheblich.
"Gerade jetzt, wenige Wochen vor der Wahl, sollten wir entschieden die Errungenschaften der Europäischen Union herausstellen. Frieden, Freiheit, Rechtsstaatlichkeit, Binnenmarkt, die gemeinsame Währung, offene Grenzen – wo sonst in der Welt gibt es das?"
Auch meine ich, müssen wir wieder lernen anzuerkennen, dass jedes Land unterschiedliche Stärken und Schwächen hat. Die Länder Europas haben eine unterschiedliche Innovations- und Wettbewerbsfähigkeit. Und weil das so ist, gehört dazu aber auch zu akzeptieren, dass die Sozialsysteme in den einzelnen Mitgliedstaaten der EU ebenfalls unterschiedlich sind. Wer hierzulande eine Vereinheitlichung von Sozialstandards auf höchstem Niveau fordert, der würde viele Mitgliedstaaten schlicht überfordern. Ich sag’s mal so: Umgekehrt ist es für uns doch auch wohl nur schwer vorstellbar, unsere sozialen Standards auf einem niedrigeren Level einzupendeln.
Das gilt, so meine ich, auch beim Thema Mindestlohn. Es mag einfach und populär sein, einheitliche Mindestlöhne für Europa zu fordern. Doch das würde die völlig unterschiedlichen Standortfaktoren auch abseits des Lohns unberücksichtigt lassen. Pauschale Vorgaben gehen da an der Wirklichkeit vorbei.
Und: Ich warne vor Rosinenpickerei. Europa funktioniert nicht, wenn wir uns nur die Kirschen von der Torte nehmen, die uns am besten schmecken. Da gibt es viele, die europaweite Standards schaffen wollen. Doch andererseits wollen etwa Gewerkschaften bestimmte Standards, die bereits da sind, nicht anwenden. Beispiel Arbeitszeiten: Nach europäischen Recht können wir insgesamt 48 Stunden an sechs Tagen in der Woche arbeiten.
Deshalb rate ich davon ab, Europa schlecht zu reden. Ganz im Gegenteil: Gerade jetzt, wenige Wochen vor der Wahl, sollten wir entschieden die Errungenschaften der Europäischen Union herausstellen. Frieden, Freiheit, Rechtsstaatlichkeit, Binnenmarkt, die gemeinsame Währung, offene Grenzen – wo sonst in der Welt gibt es das? Dabei muss uns klar sein: Europa kann nicht jede Ungerechtigkeit bewältigen oder regionale Unterschiede beseitigen. Das ist, wenn wir ehrlich sind, schon in reichen Nationalstaaten schwierig. Denken wir nur an das Ruhrgebiet. Zu glauben, dass Europa dies mit Richtlinien bewerkstelligen könnte, ist nicht nur naiv, es würde die Union schlicht überfordern.
Völlig richtig ist der Hinweis, dass Europa in den großen Dingen groß sein muss und sich nicht im Klein-Klein verlieren darf. Viele Menschen wollen zu recht weniger Regulierung. Und machen wir uns klar: Die bittere Entscheidung der Briten, die EU zu verlassen, ist auch deshalb zustande gekommen, weil die Mehrheit auf der Insel das Gefühl hatte, Europa würde zu viel in das Land hineinregulieren und den Menschen in Großbritannien zu viel vorschreiben. Das sollte uns allen in Europa eine Lehre sein.