Vor genau 20 Jahren habe ich begonnen, in der ARD Wahlergebnisse zu analysieren. Wahlabende waren spannend, vor allem in einem „Superwahljahr“, wie wir es in diesem Jahr mit der Europawahl und vier Landtagswahlen vor uns haben. Wir haben ihnen gelassen entgegensehen, die Parteienwelt war übersichtlich. In Deutschland entschieden jahrzehntelang vor allem zwei Volksparteien die Wahlen. Ein ähnliches Muster gab es bislang auf europäischer Ebene: Die Konservativen und Sozialdemokraten hatten komfortable Mehrheiten. Am 26. Mai jedoch dürfte diese große europäische Koalition ihre Mehrheit verlieren, das EU-Parlament auf der rechten Seite stärker werden. Spätestens jetzt ist die Gelassenheit früherer Wahlabende dahin, weil wir schlechte Erfahrungen gemacht haben, was Wähler so alles anrichten, wenn sie enttäuscht sind. Die Amerikaner haben Donald Trump gewählt, die Briten für den Brexit gestimmt, Männer wie Victor Orbán in Ungarn sind frei gewählt worden. Viele Menschen haben die Sorge, dass all das nur Vorboten einer Entwicklung sind, die vieles Erprobte und Bewährte in Frage stellen wird.
Dabei spielt sich in Europa im Großen ab, was wir in der Bundesrepublik im Kleinen auch erleben. Neue Parteien mit gewöhnungsbedürftigen Ansichten bringen die politische Landschaft durcheinander, machen Koalitionen und Kompromisse schwieriger, manchmal unmöglich. 2017 zog die AfD als drittstärkste Kraft in den Bundestag ein, eine Partei mit offener rechter Flanke, die ihren Erfolg der Enttäuschung über die etablierten Parteien verdankt. Nationalistische und EU-feindliche Kräfte werden auch auf europäischer Ebene das Regieren anstrengender machen. Dabei darf man nicht vergessen: Parteien wie die AfD sind ein Indiz für die Funktionsfähigkeit der Demokratie. Viele, die zuletzt gar nicht gewählt hatten, nehmen wieder am demokratischen Prozess teil und zwingen alle Parteien, sich mit komplexen Fragen zu beschäftigen, denen sie lange ausgewichen sind. Nach dem Flüchtlingssommer 2015 war es die AfD, die eine Diskussion über Migration und Integration herbeigeführt hat. Das war quälend für die Parteien der großen Koalition und führte sie an den Rand der Selbstzerstörung – schließlich aber auch zum Kompromiss. Dieses Ringen war wichtig, weil es um mehr ging als um Migranten. Dahinter standen Ängste vor Globalisierung und Heimatverlust.
"Spätestens jetzt ist die Gelassenheit früherer Wahlabende dahin, weil wir schlechte Erfahrungen gemacht haben, was Wähler so alles anrichten, wenn sie enttäuscht sind."
Es ist ein wiederkehrender Reflex in Deutschland, Fragen, die für uns geklärt sind, in Europa gar nicht mehr aufmachen zu wollen. Wir glauben: Ein gesellschaftlich und wirtschaftlich so erfolgreiches Land kann nur Vorbild für andere sein. Bei dieser Überheblichkeit vergessen wir, dass jedes einzelne der 28 (demnächst 27) Mitgliedsländer seine eigene Vergangenheit mit sich schleppt. Je weniger offen und veränderungsbereit eine Gesellschaft ist, desto mehr erzählt das über die Geschichte des Landes. Unsere eigene Vorstellung von Europa ist westeuropäisch, ja: deutsch. Es baut auf der Katastrophe des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkriegs auf. Die prägende historische Erfahrung war ein Regime, das das Nationale ins Absolute steigerte, andere Länder unterdrückte. Mit dieser Erinnerung ist es leicht und verlockend, sich als Bürger Europas zu fühlen. Die Perspektive vieler Osteuropäer aber ist eine ganz andere. Nach dem Krieg und Holocaust ist die letzte prägende Erfahrung die Unterdrückung durch den sowjetischen Machtapparat. Ihre Länder waren Büttel Moskaus, Satelliten des sowjetischen Systems. Das erklärt das Bedürfnis, nun endlich nationale Identität zu leben und sie nicht in Brüssel an eine Union abzugeben, mit der man kulturell fremdelt. Zumal an eine Union, die lange allein von Westeuropäern, insbesondere Deutschland und Frankreich, bestimmt wurde.
Bei all den Unterschieden und Uneinigkeiten ist das Vertrauen vieler Bürger in die Europäische Union groß: Politische Instabilität in vielen Mitgliedsländern und wachsendes Vertrauen in Europa sind die beiden Seiten der gleichen Medaille. Laut Eurobarometer halten 62 Prozent der Europäer die Mitgliedschaft ihres Landes für eine gute Sache. Es ist der höchste Wert seit einem Vierteljahrhundert. Die EU wird offenbar von der Mehrheit der Europäer als Schutzraum in diesen unsicheren Zeiten empfunden. Gerade die vielen Krisen – wie zuletzt das Brexit-Chaos - haben ihnen vor Augen geführt, was sie an der EU haben. Wenn bei der Europawahl populistische Parteien zulegen, ist das nur auf den ersten Blick ein Widerspruch. Denn sie werden zu einem guten Teil gewählt von Menschen, die Europa schätzen, sich aber über die Verhältnisse im eigenen Land ärgern. Die Europawahl – das sind eben immer noch 27 (oder 28) Wahlen in genau so vielen Ländern.