Es war zu fortgeschrittener Rotweinstunde um die Jahrtausendwende – der „Neue Markt“ boomte noch und verbriefte Subprime-Hypotheken avancierten zum todsicheren Milliardengeschäft – da machte Tony Blair seinem deutschen Kollegen ein Angebot: „Du kannst sie alle haben, Gerd, diese ganzen Automobile, die wir hier gebaut haben, Rolls- Royce, Bentley, Rover. Das ist 19. Jahrhundert, das ist Stahl, das ist nicht Zukunft." Michael Steiner, damals Schröders außenpolitischer Berater und Zeuge dieser Anekdote[1], weiß noch genau, was der deutsche Kanzler antwortete: „Tony, du hast keine Ahnung von Wirtschaft, du kapierst es nicht. Die Autos, die wir bauen, sind Technologieträger. Es ist schon heute modernste Elektronik, und das wird noch viel mehr. Das ist die Plattform für die wirkliche Zukunft."
Gerhard Schröder sollte Recht behalten. Vieles wäre dem Vereinigten Königreich erspart geblieben, wenn es seine De-Industrialisierung verhindert hätte. Das britische Schicksal sollte uns eine Lehre sein: Erst durch die klassischen Industrien werden aus neuen Technologien neue Wertschöpfungsketten: in der Chemie, im Maschinenbau, im Autobau und eben auch in jener Industrie, über die Tony Blair vor zwanzig Jahren mit herablassender Ahnungslosigkeit herzog: der Stahlindustrie. Industrieprodukte sind Technologieträger: für klimaneutrale Mobilität und Wasserstofftechnik, für digitale Produktionsprozesse, Künstliche Intelligenz und eine rohstoffsparende Kreislaufwirtschaft. In der Industrie und dem produzierenden Mittelstand wird – wie schon so oft in der deutschen Wirtschaftsgeschichte –die Arbeit von morgen entstehen: mit guter Bezahlung, sozialer Sicherheit und Arbeitnehmermitbestimmung.
Allerdings muss die Wirtschaftspolitik auch etwas dafür tun. Fortschritt kommt nicht von selbst und schon gar nicht gibt es ihn umsonst. Die ökologischen und technologischen Herausforderungen für unser Land – und unsere Unternehmen! – sind groß. Der digitale Rückstand im Vergleich zu China oder den USA ist es auch. Unmöglich ist hingegen gar nichts.
Die Frage ist weniger, ob wir die Kraft haben, die ökologischen und ökonomischen Herausforderungen zu meistern, sondern ob wir den politischen Willen dazu haben. Wem die ökologische und digitale Transformation am schnellsten und besten gelingt, wird erst zum Technologie- und dann zum Marktführer, inklusive enormer Gewinne, neuer Arbeitsplätze und neuer Wertschöpfungsketten.
Allerdings werden nur jene Herstellerländer die Transformation schaffen, die sie nicht allein dem Markt überlassen. Die Inder wissen das und die Chinesen wissen das auch. Mit Hilfe staatlicher Investitionen greifen sie nach Marktführerschaften in vielen Branchen – und keine deutscher „Ordnungspolitiker“ wird sie davon abhalten. Keiner.
Im Gegenteil: Bund und Länder brauchen eine neue Industrie- und Technologiepolitik. Beispiel Nordrhein-Westfalen, das Heartland Deutschlands: Über 800 mittelständische Weltmarktführer, die „Hidden Champions“, haben ihren Sitz in NRW. Hier gibt es mehr Hochschulen und Wissenschaftseinrichtungen als irgendwo sonst in Europa, die dichteste Verkehrsinfrastruktur und mehr hochqualifizierte Fachkräfte als in jeder anderen europäischen Region. Doch trotz dieser guten Rahmenbedingungen werden viele mittelständische Unternehmen die technologische Transformation nicht aus eigener Kraft schaffen können. Dazu fehlt es an Zeit und es fehlt an Kapital.
Die beiden Grundprobleme vieler Unternehmen im technologisch-ökologischen Wandel hat der Bundesverband der mittelständischen Wirtschafft (BVMW) ohne Umschweife benannt: Liquiditätsmangel und Mangel an Eigenkapital. „Dies ist eine schwere Hypothek für die Zukunft dieser Unternehmen“, so der BVMW weiter. „Denn ohne Eigenkapital sind notwendige Modernisierungs- und Innovationsinvestitionen kaum noch möglich (...)
Vielen Mittelständlern droht eine Kreditklemme. Von daher ist es entscheidend, dass das Eigenkapital dieser mittelständischen Unternehmen durch gezielte staatliche Maßnahmen unterstützt wird, damit ihre Kreditwürdigkeit gesichert und ihre Modernisierungs- und Investitionskraft erhalten bleibt. Deshalb fordern wir die Einrichtung eines staatlichen Eigenkapitalfonds in angemessener Höhe, um die Existenz und die Zukunfts- und Wettbewerbsfähigkeit dieser Unternehmen zu sichern.“[2]
Genau so einen Fonds wird die NRWSPD nach der Übernahme der Regierungsverantwortung im Mai 2022 auf den Weg bringen: einen Stabilitätsfonds für die Arbeit von morgen mit einem Volumen von 30 Milliarden Euro.
Dieser Fonds wird durch strategische Unternehmensbeteiligungen das Eigenkapital der (mittelständischen) Unternehmen stärken, ihre Unabhängigkeit sichern und ihre Kreditwürdigkeit deutlich erhöhen. Auf diesem Wege bekommen die Industrie- und Technologieunternehmen genügend Mittel, um schnell in neue ökologische und digitale Produktionsprozesse investieren zu können, ohne dass der Unternehmenswert dadurch leidet. Zu den Zielgruppen zählen z.B. Unternehmen der Automobilindustrie im Zuge der Umstellung auf Elektromobilität, Industriebetriebe der Grundstoffindustrie, die ihre Produktion auf der Basis von Wasserstoff umstellen oder Unternehmen die zirkuläre Wertschöpfungskonzepte in den Markt bringen. Nicht zuletzt schützt ein solcher Fonds vor feindlichen Übernahmen und ungewollten Wissens- und Technologietransfer z. B. nach Fernost.
Der Fonds selbst wird sein Beteiligungsvolumen von 30 Milliarden Euro über Anleihen, z.B. über Green-Bonds auf dem Kapitalmarkt beschaffen. Damit können auch private Anleger investieren. Es handelt sich um ein Sondervermögen des Landes Nordrhein-Westfalen, das bei der NRW.BANK angesiedelt und vom Land garantiert wird. Weil der Haushalt kaum belastet wird, fällt der Fonds nicht unter die Regeln der Schuldenbremse. Entscheidend ist, dass mit Hilfe des Stabilitätsfonds die Bonität des Staates für die zukünftige Wettbewerbsfähigkeit von Unternehmen genutzt werden kann – ohne dass Gewinne privatisiert und Verluste sozialisiert werden. Denn der Fonds baut schließlich ein Vermögen auf, das später wieder für das Allgemeinwohl investiert werden kann.
Um Missverständnissen vorzubeugen: Staatsbeteiligungen sind keine Verstaatlichungen. Die Einflussnahme des Staates auf die Unternehmenspolitik wird zeitlich begrenzt. Es geht um den Aufbau von Wettbewerbsfähigkeit, nicht zuletzt den Erhalt und die Schaffung guter Arbeitsplätze.
Neue Herausforderungen verlangen nach neuen Antworten – auch in der Industriepolitik.
[1]www.spiegel.de/spiegel/print/d-138379338.html
[2]www.bvmw.de/fileadmin/01-Presse_und_News/Pressekonferenzen/2021/Post-Corona-Agenda.pdf