In den letzten Jahren sind viele neue Jobs entstanden: Allein von 2013 bis 2020 stieg die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten um 3,9 Millionen. Vor allem Frauen und Ältere sind inzwischen deutlich häufiger erwerbstätig, aber auch viele Arbeitslose sind wieder in Beschäftigung gekommen. Der Bedarf am Arbeitsmarkt dürfte weiter steigen, denn die Aufgaben für NRW sind enorm. Die vier großen Ds stellen als Megatrends den Standort vor große Herausforderungen, weil sie gleichzeitig wirken und sich in ihren Auswirkungen teilweise gegenseitig verstärken:
- Die Demografie bedeutet weniger Nachwuchskräfte und ältere Belegschaften. In den kommenden Jahren gehen die Beschäftigten der Babyboomer-Generation der zwischen 1955 bis 1969 Geborenen in Rente. Die Fachkräftelücke wird damit in diesem Jahrzehnt weiterwachsen, und zwar um 5 Mio. Köpfe – wenn wir nicht gegensteuern. Inzwischen ist bereits fast jeder vierte Beschäftigte über 55 Jahre alt ist. Zugleich sind Bewerber für Ausbildungsplätze für Unternehmen in NRW immer schwerer zu gewinnen.
- Die Digitalisierung fordert neue Kompetenzen von den Beschäftigten und mehr Weiterbildung. Digitalisierungsberufe sind für die technologische Souveränität Deutschlands essenziell. Der Fachkräftemangel bremst hier den benötigten Beschäftigungsaufbau zur erfolgreichen Gestaltung der Transformation. Im Jahr 2026 könnten knapp 106.000 qualifizierte Arbeitskräfte in Digitalisierungsberufen in Deutschland fehlen.
- Für die De-Karbonisierung verfolgt Deutschland ambitionierte Ziele etwa mit einer Modernisierung des Altbestands an Wohnungen und Heizungsanlagen, einer klimaneutralen Produktion und einer Energiewende mit dem Ausbau erneuerbare Energien auf 80 Prozent des Stroms bis 2030. NRW will bis 2045 klimaneutral wirtschaften. Dafür werden viele Fachkräfte in Berufen benötigt, die bereits jetzt knapp sind, etwa in der Bauelektrik, im SHK-Handwerk und in der Informatik.
- Die De-Globalisierung erfordert eine Neuausrichtung von Lieferketten und eine Neubewertung von Risiken bei Einfuhrabhängigkeiten von China oder Taiwan sowie bei Rohstoffabhängigkeiten. Im Hinblick auf die Fachkräftesicherung steht Deutschland hier vor der Aufgabe, für Zuwanderer im internationalen Wettbewerb mit klassischen Einwanderernationen noch attraktiver zu werden.
Die aktuelle Fachkräftesituation in NRW
Derzeit fehlen in Nordrhein-Westfalen 88.234 qualifizierte Arbeitskräfte (Fachkräftelücke). Damit gab es im Jahresdurchschnitt zwischen Juli 2022 und Juni 2023 für 35,6 Prozent aller offenen Stellen für Fachkräfte im Land keine passend qualifizierten Arbeitslosen (Stellenüberhangsquote). Die Fachkräftelücke hat inzwischen das Niveau von vor der Corona-Pandemie wieder deutlich überschritten, auch wenn sich die Lücke in den vergangenen Monaten leicht verringert hat.
Es fehlen mit gut 45.000 Qualifizierten zahlenmäßig am meisten Fachkräfte mit Berufsausbildung. Hier konnten 28 Prozent der offenen Stellen nicht besetzt werden. Am schwersten zu besetzen sind allerdings Stellen für Spezialisten mit Meister-, Techniker- oder Bachelorabschluss (Stellenüberhangsquote 44 Prozent). Und bei Experten, die typischerweise über einen Masterabschluss oder ein Diplom verfügen (Stellenüberhangsquote 53 Prozent), gibt es sogar für mehr als jede zweite offene Stelle landesweit keine entsprechend qualifizierten Arbeitslosen.
Die Fachkräftelücke ist zum einen besonders hoch in Berufen, die für die digitale und ökologische Transformation besonders relevant sind. So fehlen derzeit knapp 2.700 Informatiker und jeweils über 1.000 Elektroingenieure, Wirtschaftsinformatiker sowie Ingenieure für Bauplanung und Bauüberwachung. Hinzu kommen fast ebenso viele Bauelektrik- und SHK-Fachkräfte im Handwerksbereich. Zum anderen fehlen sehr viele Fachkräfte in den Bereichen Erziehung, Gesundheits-, Alten- und Krankenpflege. Hier gibt es für weit über 10.000 offene Stellen keine passend qualifizierten Arbeitslosen in NRW. Wenn dadurch entsprechende Betreuungs- und Pflegeangebote ausfallen, können wiederum andere Fachkräfte nur weniger arbeiten, was den Fachkräftemangel weiter verschärft.
Es gilt daher, mehr Menschen für diese Berufe zu begeistern, ins Land zu holen, zu qualifizieren oder als Quereinsteiger weiterzubilden und in den kommenden Jahren möglichst alle noch vorhandenen Potenziale auszuschöpfen. Nur so kann es gelingen, die Unternehmen in NRW wettbewerbsfähig zu halten und die großen Ziele der digitalen und ökologischen Transformation sowie der klimaneutralen Wertschöpfung zu erreichen. Der Fachkräftemangel dürfte sich weiter deutlich verschärfen, wenn wir nicht gemeinsam massiv gegensteuern und dafür auch neue Wege gehen.
Potenziale zur Fachkräftesicherung
Die größten rechnerischen Potenziale bestehen nach wie vor trotz aller Beschäftigungszuwächse der letzten Jahre bei Frauen, da diese überwiegend in Teilzeit arbeiten. Ihre Erwerbsbeteiligung könnte weiter gesteigert werden, wenn die Arbeitsbedingungen stimmen und die Vereinbarkeit von Beruf und Familie durch ausreichende Betreuungsangebote für Kindern und Pflegeangebote für Angehörige gesichert sind. Ebenfalls sehr große Potenziale liegen noch bei den älteren Beschäftigten, wenn es gelingt sie länger fit und qualifiziert im Job zu halten. Insgesamt braucht es deutlich stärkere Anreize für eine längere Erwerbstätigkeit und eine Ausweitung der Arbeitszeit.
Dies können Unternehmen durch passgenaue Qualifizierung, eine vorausschauende Personalarbeit sowie flexible Arbeitsbedingungen und eine gute Arbeitskultur effektiv unterstützen. Allerdings muss dafür auch das Angebot an Kitaplätzen und Ganztagsbetreuung an Schulen deutlich ausgeweitet werden. Hier ist die Politik gefragt, neue Lösungen zu finden und mehr in die Fachkräftesicherung zu investieren.
Die Unternehmen würden gerne selbst mehr für den eigenen Fachkräftenachwuchs tun. So bleiben seit Jahren deutlich mehr als 10.000 der gemeldeten Ausbildungsstellen bundesweit unbesetzt; die Dunkelziffer dürfte deutlich höher liegen. So konnten laut IAB-Erhebung im vergangenen Jahr fast 40 Prozent aller Ausbildungsplätze nicht besetzt werden. Es kommt also darauf an, mehr junge Menschen für eine Ausbildung zu gewinnen. Hier setzt das Land im Rahmen der „Fachkräfteoffensive NRW“ zu Recht intensiv und mit neuen Maßnahmen an. Es ist zu hoffen, dass die neu eingeführten Coaches im Programm „Ausbildungswege NRW“, die „Berufseinstiegsbegleiter NRW“ an Schulen und die „Übergangslotsen“ an Berufskollegs unversorgte Jugendliche deutlich häufiger für eine Einstiegsqualifizierung oder eine Ausbildung in Betriebe vermitteln können. Denn je praxisnäher auf den Beruf vorbereitet und ausgebildet wird, desto besser gelingt die Arbeitsmarktintegration.
Der demografische Trend kann nur dann deutlich abgemildert werden, wenn es zudem gelingt, mehr Fachkräfte aus dem Ausland zu gewinnen. Hier benötigt Deutschland Jahr für Jahr 400.000 bis 500.000 Zuwanderer netto, also im Saldo mehr Fachkräfte, die kommen, als das Land wieder verlassen. Dazu beitragen kann auch, wenn es gelingt, die hohe Zahl der Auswanderer zu verringern. Das ist eine sehr große Aufgabe im internationalen Wettbewerb um die besten Talente. So war die Zuwanderung durch die Auswirkungen der Corona-Pandemie jüngst deutlich ins Stocken geraten.
Mehr Zuwanderung soll durch das aktuell reformierte Fachkräfteeinwanderungsgesetzt erreicht werden. Ziel ist es, Hürden für den Zuzug von Fachkräften zu senken. Dazu soll beispielsweise die neu eingeführte Chancenkarte zur Arbeitsplatzsuche für Drittstaatsangehörige mit einem Punktesystem und einen Zugang zum deutschen Arbeitsmarkt für Berufserfahrene ohne Abschluss geben. Dier Rekrutierung im Ausland spielt für viele Unternehmen bislang leider noch eine untergeordnete Rolle. Sie benötigen dafür mehr Unterstützung von Institutionen, die Brücken ins Ausland bauen, sie beim Prozess der Rekrutierung beraten und die Integration begleiten. Hilfreich wäre es, diese Option rechtlich für die Zeitarbeit zu öffnen. Hieran wird sich mitentscheiden, inwiefern es Unternehmen hierzulande gelingt, internationale Fachkräfte zu finden und zu binden.