Der NRW-Wirtschaftsblog
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im Westen

Regulierung in Europa – Wachstumsbremse und Wettbewerbsnachteil

Von Dr. Margarete Haase

Vorsitzende von kölnmetall

Deutschland und Europa regulieren sich ins wirtschaftspolitische Abseits, warnt Dr. Margarete Haase, Vorstandsvorsitzende von kölnmetall und Vize-Präsidentin von unternehmer nrw.

Die oft überbordende Regulierung begegnet uns in allen Lebensbereichen – privat und beruflich gleichermaßen. Nicht selten greifen wir zu eher unkonventionellen Methoden, um ihrer Herr zu werden. Oder wir verhalten uns ganz einfach rational, wie einige Beispiele zeigen:

  • Was etwa machen wir als Konsumenten mit einem Tethered Cap? Wir nehmen eine Schere zur Hand und schneiden die Kapsel ab, damit wir uns nicht bekleckern.

  • Was machen wir als Internetnutzer, wenn plötzlich die Richtlinien der Datenschutzgrundverordnung aufploppen? Reflexartig klicken wir alle „Ja-Felder“, um nur schnell weiterarbeiten zu können.

  • Was machen wir als Kunden beim Bäcker mit dem ausgedruckten Kassenzettel? Ab in den Papierkorb.

  • Was machen unsere Firmen, wenn sie mit der Corporate Sustainability Reporting Directive - kurz CSRD - konfrontiert werden? Sie dämpfen ihre ambitionierten Nachhaltigkeitsbestrebungen, um nicht in die Falle des Greenwashing über das Reporting zu tappen.

  • Was macht das EU-Lieferkettengesetz (CSDDD) mit uns? Wir machen genau das Gegenteil dessen, was es bewirken soll, gehen auf Nummer sicher und kaufen weniger in Entwicklungsländern ein.

  • Was machen die Unternehmen, die vom Energieeffizienzgesetz (EnEfG) betroffen sind? Sie bauen ihre Rechenzentren nicht mehr in Deutschland auf.

  • Wie gehen Unternehmen mit dem EU-AI Act um? Sie zögern bei der Einführung neuer Produkte – wie etwa aktuell Apple mit dem iPhone 16, das in Europa ohne Apple Intelligence angeboten wird.

Um nicht missverstanden zu werden: Selbstverständlich braucht wir Regulierung für Transparenz und für einen Ausgleich unterschiedlicher Interessen, die nicht so ohne weiteres in Einklang zu bringen sind. Denken wir an das Dilemma zwischen den Polen Innovation versus Sicherheit, nationaler Souveränität versus internationaler Standards, Wirtschaftswachstum versus soziale Sicherung oder langfristiger Ziele versus kurzfristiger Interessen.

Doch wieviel Regulierung brauchen wir wirklich, wofür ist Regulierung gut und wie gelingt das richtige Maß an Regulierung? Das sind doch die entscheidenden Fragen.

Die Europäische Union jedenfalls ist mit ihrem Verständnis von Regulierung sehr weit gegangen. Ihre Politik gleicht zuweilen einem Tsunami an Regeln und Verordnungen. Vielerorts hat sie bürokratische Monster geschaffen, die unsere Wettbewerbsfähigkeit auf Dauer beschädigen.

In Brüssel macht selbstironisch schon ein kleiner Witz die Runde: Die Vereinigten Staaten erfinden, China produziert und Europa reguliert. Der Gag hat aber bedauerlicherweise einen realen Kern. Zumal Regulierung nicht gleich Regulierung sein muss. Nicht wenige haben den Eindruck, Regulierung in den Vereinigten Staaten fördere eher Wirtschaftswachstum, während die EU-Regulierungspolitik die Wirtschaft vor allem stranguliert, bremst und ihr damit Wettbewerbsnachteile auferlegt. Der Inflation Reduction Act (IRA) oder der Umgang mit KI sind hier prominente Beispiele. 

Selbst Mario Draghi kritisiert in seiner jüngst vorgestellten Industriestrategie die überbordende Regulierung in Europa. Er macht dabei massive Wachstumshindernisse für Innovationen aus und moniert zudem das sogenannte „Goldplating“ in der fragmentierten Regulierung in Europa sowie deren ehrgeizige Umsetzung in den Mitgliedstaaten.

Doch wieviel Regulierung brauchen wir wirklich, wofür ist Regulierung gut und wie gelingt das richtige Maß an Regulierung? 

Draghi macht dies am Beispiel Datenschutz und dem AI Act besonders deutlich: Mehr als 270 Regulatoren, so listet er auf, sind allein im Bereich der digitalen Netzwerke aktiv und machen es vor allem jungen innovativen „Tech Companies“ schwer, in Europa Fuß zu fassen. Auch wenn man nicht alle Vorschläge des Draghi-Papiers gut finden muss und vor allem die Finanzierungsideen in Frage stellen kann: Seine Bestandsaufnahme ist aber doch bemerkenswert realistisch.

Überbordende und fragmentierte Regulierung führt auch zu Überschneidungen und zu konfliktären Regeln, die Betroffenen viel Kopfschmerzen bereiten. So etwa der Digital Operational Resilience Act (DORA) und die Network Information Security (NIS 2) Directive für den Tech- und Finanzsektor. Ein einziger Dschungel aus Security-Regularien belastet die Unternehmen zu einem Thema gleich von zwei Seiten – und verursacht eine unfassbare Arbeitsbelastung und auch Unsicherheit für die Banken. 

Keine Frage: Bankenregulierung ist zunächst einmal eine notwendige Folge der hochkomplexen und damit intransparenten Produkte nach der Deregulierungswelle. Doch damit reagiert Europa nur lediglich auf die Schieflage in der Vergangenheit, ohne sich allerdings den Herausforderungen der Zukunft zu stellen. Das schafft neue Probleme. Denn es ist die Eigenschaft von Krisen, dass sie stets aus einer anderen unerwarteten Ecke kommen. Das allerdings wird nur selten von den Regulatoren in Brüssel ausreichend erkannt, berücksichtigt und verstanden.

Doch wie kann es sein, dass mit Regulierung oft das Gegenteil von dem bewirkt wird, was eigentlich erreicht werden soll? Ehrgeizige Nachhaltigkeitsexperten im Unternehmen treffen bei der aktuellen Herausforderung des „double materiality assessment“ auf Accountants und Wirtschaftsprüfer, die komplett anders an die Sache rangehen. Man versteht einander einfach nicht. So stehen sich Reporting-Anforderungen und Transformationsbemühungen gegenseitig im Wege.

Es ist doch paradox: Auf der einen Seite nehmen die Unternehmen die Herausforderungen der Transformation an und sind im Prozess auch deutlich vorangeschritten. Doch auf der anderen Seite sind die Unternehmen gegenüber den überbordenden Berichtspflichten deutlich kritischer. Machen wir uns nichts vor: Dem großen Aufwand für die Nachhaltigkeitsberichterstattung steht nur für wenige ein echter Nutzen gegenüber. Oder anders gesagt: Wer dieses Monster wirklich gebraucht hat, um Transparenz über die eigenen Nachhaltigkeitsbemühungen zu schaffen, hat möglicherweise ein Governance-Problem.

Oder nehmen wir die Lieferketten-Gesetze in Deutschland und auf EU-Ebene: Eingriffe wie diese erzeugen doch eine Globalisierung und Diversifizierung im Rückwärtsgang. Die bürokratisch denkenden Regulatoren verstehen oft nicht, welch kontraproduktive Effekte sie erzeugen. Und viel zu oft verlieren sie ihre eigentliche Zielsetzung aus den Augen: Der Trade off zwischen Wohlstand und Wachstum einerseits und Schutz von Konsumenten andererseits wird oft nicht gesehen. Regulierung wird sehr oft gemacht, ohne wichtige Experten und Entscheidungsträger einzubeziehen.

Gleiches gilt für die Illusion, Klimaschutz könne nur durch Verzicht und Degrowthing erreicht werden. Das Gegenteil ist doch der Fall: Ohne Wirtschaftswachstum wird weder die Transformation noch der Sozialstaat zu finanzieren sein. Übrigens sind wir als Europäer mit diesen Ambitionen, eine bessere Welt durch Regulierung zu schaffen, übrigens allein. Speziell die EU Taxonomie – über die ifo-Präsident Prof. Clemens Fuest sagt, sie könne ersatzlos entfallen – schwächt unsere Wettbewerbsfähigkeit gegenüber USA und Asien. In Asien werden ESG-Ziele nur verfolgt, wenn sie ein Geschäftsmodell darstellen, in den USA ist die Thematik ohnehin in den Hintergrund geraten.

Außerdem wird Regulierung immer schludriger. Aktuelles Beispiel: der europäische AI Act. Es gibt viele Hinweise, dass die Wirtschaft und andere wichtige Stakeholder nicht mehr ausreichend in Regulierungsgestaltung einbezogen werden.

Ein wichtiges Beispiel für das Versagen der Kooperation zwischen Staat und Wirtschaft ist der Green Deal. Er wurde kurz vor der Pandemie in der EU eingeführt und dessen Geschäftsmodell schon als neues Wirtschaftswunder gepriesen. Zur Erinnerung: Profitables Wachstum war die Idee. Später wurde diese Rechnung einkassiert, inzwischen geht man gar von negativen Effekten aus. EU-Parlamentarier bestätigen dies hinter vorgehaltener Hand. 

Doch woran liegt es, dass der Staat sich inzwischen als Stabilitätsfaktor für einen scheinbar entfesselten Raubtier-Kapitalismus betrachtet? Wann hat der Disconnect zwischen Politik und Wirtschaft begonnen? Was hat dazu beigetragen, dass das Vertrauen zwischen beiden gestört ist?

Zwei Entwicklungen sind aus meiner Sicht dafür verantwortlich: der Dieselskandal und die Finanzmarktkrise. Es mag vor diesem Hintergrund verständlich sein, dass der Staat immer mehr Aufgaben an sich zieht und die Betroffenen weniger fragt. Allerdings vollzieht er dies mit einer derart übertriebenen Gründlichkeit, dass überbordende Regulierung mittlerweile zu einem der größten Wettbewerbshemmnisse unserer Zeit geworden ist.

Was also muss geschehen? Als „Food for Thought“ habe ich acht Thesen für eine zukunftsfeste europäische Regulierung:

Erstens: Regulierung sollte keiner Ideologie folgen.

Zweitens: Regulierung sollte mit dem Betroffenen breit abgestimmt sein und nur nach Anhörung von Experten und einer zu Ende gedachten Cost-Benefit-Berechnung eingeführt werden.

Drittens: Regulierung braucht ein Back Testing, sie muss also zurückgenommen werden können, sollte sie die Ziele nicht erreicht haben.

Viertens: Das One-In-One-Out-Prinzip muss zum Maßstab werden. Bei jeder neuen Verordnung sollten zwei bestehende abgeschafft werden.

Fünftens: Regulierung sollte immer ihre Auswirkung auf die Wettbewerbsfähigkeit Europas in der Welt messen, „Level playing field“ ist als Rahmenbedingung zu akzeptieren

Sechstens: Obligatorischer KMU- und Startup-Test: Ist Regulierung schlank und unkompliziert genug, dass auch kleinere und oder junge Unternehmen damit umgehen können?

Siebtens: Regulierung sollte eine Transparenz schaffen, die zu unserem Modell der Sozialen Marktwirtschaft passt. Ja zu einem Ordnungsrahmen, aber nein zu Regelungen bis ins kleinste Detail. Eine Überdosis kippt schnell in die Planwirtschaft.

Und achtens: Mischen wir uns alle genug ein? Statt Disconnect hin zu „Reconnect for responsible capitalism“!

Um diesen letzten Aspekt noch besonders hervorzuheben: Es ist eine Bringschuld auch der Vertreter der Wirtschaft, sich frühzeitig in Regulationsprozesse einzubringen. Weniger Wutreden, stattdessen mehr Politikbeobachtungskompetenz und engere und vertrauensvollere Beziehungen zur Politik sind erforderlich, damit regulatorische Entwicklungen nicht wachstumshemmend, sondern wachstumsfördernd für ein gemeinsames Europäisches Haus gelingen.

Hinweis: Der Blog-Beitrag von Dr. Margarete Haase erschien ebenfalls als Kommentar im iwd - Dem Informationsdienst des Instituts der deutschen Wirtschaft:

https://www.iwd.de/artikel/kommentar-eine-ueberdosis-buerokratie-fuehrt-in-die-planwirtschaft-644078/ 

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