Der NRW-Wirtschaftsblog
Klartext
im Westen

Wann, wenn nicht jetzt? Wo, wenn nicht hier? Wer, wenn nicht wir?

Von Josefine Paul

Seit 2022 Ministerin für Kinder, Jugend, Familie, Gleichstellung, Flucht und Integration des Landes Nordrhein-Westfalen
2022 - 2022 Fraktionsvorsitzende BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN im Landtag NRW

NRW-Familienministerin Josefine Paul im NRW-Wirtschaftsblog mit einem mehrdimensionalen Blick auf die Herausforderungen des Fachkräftemangels.

Aus dem gewählten Zitat in der Überschrift ergeben sich zwei wesentliche Perspektiven: einerseits zeigen uns die aktuellen vielfältigen Krisenlagen und Herausforderungen deutlich auf, dass jetzt die Zeit zu handeln ist. Andererseits können Krisen uns auch ermutigen, notwendige Schritte zu gehen und neue Perspektiven und Lösungsansätze zu entwickeln.

Als zuständige Ministerin für Kinder, Jugend, Familie, Gleichstellung, Flucht und Integration vereinen sich in meinem Haus unterschiedliche Perspektiven. Sie ermöglichen aber auch gleichzeitig einen mehrdimensionalen Blick auf die Herausforderungen des Fachkräftemangels und damit auch auf Herausforderungen und Lösungsansätze.

Ein funktionierendes Gemeinwesen basiert auch auf einer starken sozialen Infrastruktur. Dabei sind wir gerade in Krisenzeiten auf eine funktionierende soziale Infrastruktur angewiesen. Der Fach- und Arbeitskräftemangel ist die größte Herausforderung für die Funktionsfähigkeit dieser so wichtigen Gemeinschaftseinrichtungen. Kitas und Jugendhilfe, Familienberatungsstellen und Unterstützungsangebote für Geflüchtete – alle diese Einrichtungen der sozialen Infrastruktur erfüllen basale gesellschaftliche Funktionen. Sie schaffen Chancengerechtigkeit, ermöglichen sicheres Aufwachsen für alle Kinder und bieten Unterstützung für Menschen, denen sonst die gesellschaftliche Teilhabe erschwert ist. Verlässliche Betreuungsstrukturen, die erfolgreich auch ihren Bildungsauftrag umsetzen, sind zudem die Grundvoraussetzung für den wirtschaftlichen Erfolg unseres Bundeslandes. Darüber hinaus ermöglichen sie die Beteiligung am Erwerbsleben für die Menschen, die Sorgeaufgaben übernehmen, etwa für Kinder oder zu pflegende Angehörige, und ermöglichen so eine bessere Vereinbarkeit von Beruf und Sorgearbeit.

Fach- und Arbeitskräftemangel zentrale Herausforderung für Zukunftsfähigkeit

Wir erleben allerdings, dass der Mangel an Fach- und Arbeitskräften die Funktionsfähigkeit der sozialen Infrastruktur und die Erfüllung ihrer gesellschaftlich wichtigen Aufgaben zunehmend infrage stellt. Dabei ist der Fach- und Arbeitskräftemangel kein alleiniges Problem der Sozial- und Erziehungsberufe. Fast jeder Bereich vom Handwerk über die Industrie bis in den Gesundheitsbereich und die Verwaltung spüren diesen Mangel.

Damit ist der Fach- und Arbeitskräftemangel vielleicht die zentrale Herausforderung für die Zukunftsfähigkeit unseres Landes. Um es vorweg zu nehmen, es gibt keine einfachen und auch keine sofort wirksamen Lösungen. Aber es gilt jetzt die Schritte zu gehen, um über kurz-, mittel-, und langfristige Maßnahmen für eine nachhaltige Stabilisierung und Weiterentwicklung unserer sozialen Infrastruktur zu sorgen.

Wir müssen und wir werden die Herausforderung in der Verantwortungsgemeinschaft aus Politik, Verbänden, Arbeitgebenden, Trägern und Verwaltung annehmen. Die Fachkräftegewinnung und -sicherung ist dabei ein zentrales Anliegen meines Hauses sowie der Landesregierung insgesamt. Mit der Koordinierungsstelle Fachkräfteoffensive Sozial- und Erziehungsberufe haben wir in meinem Haus Strukturen geschaffen, um hier zielorientiert Schritte gehen zu können und auch die Landesregierung insgesamt nimmt sich dieses wichtigen Themas in allen Arbeitsmarktbereichen mit Nachdruck an.

Soziale Infrastruktur als Basis

Der Blick auf die bestehenden Herausforderungen und das, was zu tun ist, darf aber nicht den Blick dafür verstellen, was wir trotz allem an wichtigen Voraussetzungen haben.

Da sind an erster Stelle die Menschen, die bereits in unseren Kitas, den Jugendeinrichtungen, den vielen Beratungsstellen oder Gewaltschutzeinrichtungen tätig sind. Sie sind das Herz und der Grundpfeiler einer funktionierenden sozialen Infrastruktur. Und da sind die jungen Menschen am Anfang ihrer Berufsbiographie, die sich eine Tätigkeit im sozialen Bereich vorstellen können oder die bereits eine Ausbildung oder ein Studium in diesem Bereich angefangen haben. Junge Menschen für einen sozialen Beruf zu begeistern und ihnen neben einer guten Ausbildung auch eine gute Perspektive zu bieten ist eine der entscheidenden Anforderungen, denen wir uns stellen müssen. Darüber hinaus werden wir auch neue Wege gehen müssen, wenn es etwa um die verbesserten Möglichkeiten eines qualifizierten Quereinstiegs geht. Neben den klassischen Ausbildungsgängen brauchen wir Wege der modularisierten Qualifikation, um auch Menschen, die sich beruflich umorientieren wollen, für dieses Arbeitsfeld zu gewinnen.

Die soziale Infrastruktur erfüllt aber gesellschaftlich gesehen mehrere wichtige Aufgaben. Sie steht für die Ermöglichung von Chancengerechtigkeit, ist selbst Arbeitsplatz und unterstützt gleichzeitig eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf.

Gerade bei letzterem erkennen wir aber noch immer einiges an Luft nach oben, gerade wenn es um die Erwerbstätigkeit von Frauen geht. Hier bedarf es aus gleichstellungspolitischer und arbeitsmarktpolitischer Sicht weiterer Schritte. Dabei geht es aus meiner Sicht nicht darum, möglichst viele Frauen in eine Vollzeiterwerbstätigkeit zu drängen, sondern darum, echte Wahlfreiheit zu ermöglichen. Noch immer sind es Frauen, die den Großteil der Sorge- oder Carearbeit – das Kümmern um Haushalt und Kinder oder die Pflege von Angehörigen – leisten. Hier kann die Antwort nicht nur im Ausbau der Betreuungs- und Unterstützungsstrukturen liegen – wobei wir in diesem Bereich z.B. mit dem Ausbau der Kitaplätze um 160.000 in den letzten 10 Jahren mehr Fortschritte gemacht haben als es gemeinhin den Eindruck erweckt – es geht auch darum, vonseiten der Arbeitgebenden mehr Flexibilität zu ermöglichen und Karrierechancen nicht an eine Vollzeitstelle in Präsenz zu knüpfen. Wir sollten gemeinsam daran arbeiten, in unserem Bundesland für die besten, modernsten und flexibelsten Arbeitsbedingungen zu sorgen. Nur so werden wir nicht nur mehr Frauen und Eltern gewinnen, sondern so werden wir auch im internationalen Vergleich und Wettbewerb um die Arbeitskräfte der Zukunft bestehen.

Potential in der Einwanderung von Menschen

Potentiale liegen ebenso in der Einwanderung von Menschen, die aus anderen Ländern zu uns nach Nordrhein-Westfalen kommen.

Der akute Fach- und Arbeitskräftemangel sowie die Herausforderungen des demografischen Wandels machen Einwanderung notwendig, um die Zukunftsfähigkeit unseres Wirtschaftsstandorts, eine starke soziale Infrastruktur und damit unseren Wohlstand zu sichern.

Die aktuelle Debatte um eine bessere Steuerung von Migration muss dabei auch eine Verbesserung legaler Wege der Arbeitsmigration in den Blick nehmen. Bislang erfolgt ein Großteil der Einwanderung über den Weg der Flucht. Dabei ist klar, dass wir zu unserer humanitären Verantwortung zum Schutz von Verfolgten und von Krieg und Gewalt Betroffenen stehen. Klar ist aber auch, dass dies nicht für alle Menschen der richtige Rechtsrahmen ist. Wir brauchen einfachere legale Zugangswege für Arbeitsmigration, die so das Asylsystem entlasten und allen Beteiligten zu mehr Planungssicherheit verhelfen. Damit schaffen wir auch ein Mehr an Steuerung.

Wir müssen aber auch die Potentiale derer, die bereits bei uns sind, besser nutzen. Dazu gehört eine schnellere Anerkennung ausländischer Berufs- und Bildungsabschlüsse genauso wie der Abbau bestehender Hemmnisse bei der Aufnahme von Arbeit.

Arbeitsverbote von Menschen, die eine gute Bleibeperspektive haben, zu enge Möglichkeiten, hier eine Ausbildung zu beginnen und nach dieser auch im Betrieb langfristig arbeiten zu können, sind nicht im wirtschaftlichen Interesse unseres Landes und darüber hinaus ein gravierendes Integrationshemmnis. Das sind auch die alltäglichen Erfahrungen von Betrieben und Einrichtungen, die über zu viel Bürokratie in diesem Bereich klagen und gleichzeitig zu oft Sorge haben, dass ihre Auszubildenden oder Mitarbeitenden hier keine dauerhafte Bleibeperspektive erhalten, obwohl sie teilhaben, sich integrieren und wertvolle Arbeit für ihre Betriebe leisten.

"Wir brauchen eine breite Allianz, um den Herausforderungen zu begegnen"

Mit dem Fachkräfteeinwanderungsgesetz sind hier auf Bundesebene erste gute Schritte unternommen worden. Wir nutzen aber auch als Land NRW unsere Möglichkeiten, um das Potential für den Arbeitsmarkt von Menschen aus dem Ausland zu heben. Hier ist insbesondere die 3+2-Regelung (Ausbildungsduldung) zu erwähnen. Sie ermöglicht Personen, die im Duldungsstatus bei uns leben, eine qualifizierte Berufsausbildung aufzunehmen. Nach einem erfolgreichen Abschluss der Ausbildung und anschließender Aufnahme einer qualifizierten Beschäftigung in dem erlernten Beruf ist die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis vorgesehen. Auch über die Beschäftigungsduldung wird ausländischen Personen, die einer versicherungspflichtigen Beschäftigung nachgehen, eine konkrete Möglichkeit für einen Übergang in ein Bleiberecht aufgezeigt. Die Anwendung von beiden Instrumenten begleitet das Land Nordrhein-Westfalen durch einen entsprechenden Erlass, um die im Aufenthaltsgesetz vorhandenen Spielräume konsequent zu nutzen und Rechtssicherheit zu schaffen.

Wir leben in einer Zeit multipler Krisen und Herausforderungen. Das bildet sich in fast allen Bereichen unserer Gesellschaft ab und es ist für die allermeisten von uns auf die eine oder andere Weise spürbar. Und trotzdem soll uns das für den Titel gewählten Zitat von John F. Kennedy auch ermutigen, Lösungen zu suchen und neue Perspektiven zu eröffnen. Deshalb blicken wir in meinem Ministerium aus den unterschiedlichen Blickwinkeln unserer Zuständigkeiten auf die Herausforderungen und begreifen uns nicht zuletzt aufgrund dieser Vielfalt an Perspektiven auch als Chancenministerium.

Wir brauchen eine breite Allianz, um den Herausforderungen zu begegnen und über die unterschiedlichen Perspektiven aller Akteure Lösungen zu finden.

Über die Autorin
Josefine Paul

Seit 2022 Ministerin für Kinder, Jugend, Familie, Gleichstellung, Flucht und Integration des Landes Nordrhein-Westfalen
2022 - 2022 Fraktionsvorsitzende BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN im Landtag NRW

Zur Autorin