Mann im Anzug lehnt am Geländer.
Der NRW-Wirtschaftsblog
Klartext
im Westen

Wenn Worte und Taten nicht zusammenpassen

Von Andreas  Tyrock

Chefredakteur der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung

Im NRW-Wirtschaftsblog schreibt WAZ-Chefredakteur Andreas Tyrock über Moral und Doppelmoral.

Was war gut, was war schlecht? Dies ist der klassische Ansatz einer Bilanz, die viele Menschen zum Jahresende oder zum Beginn eines neuen Jahres ziehen. Dabei gilt: Je ehrlicher man zu sich selbst ist, desto mehr kann man in der Zukunft besser machen.

Blicken wir doch mal auf Deutschland. Ganz allgemein. Wissend, dass ein solcher Blick im Detail manchmal nicht differenziert genug ist, zum Teil auch etwas ungerecht sein kann. Dennoch dürften viele Menschen der Aussage zustimmen, dass dieses Land vor allem in der Politik, zum Teil in der Wirtschaft, manchmal auch im Sport mit sehr hohen moralischen Ansprüchen unterwegs ist.

Regierungsmitglieder reisen durch die Welt und verteidigen die Menschenrechte. Auch wollen wir das Klima retten, den Frieden bewahren, die Armut und den Hunger bekämpfen, wir wollen Bildungsgerechtigkeit, gleiche Chancen für alle und vieles, vieles mehr. Diese Zielsetzungen sind richtig, und es dürfte nur wenige Menschen geben, die das Streben nach einer besseren Welt ablehnen würden.

Deutsche Doppelmoral

Doch wer definiert das bessere Leben, die bessere Welt? Vielleicht ist es, wenn wir als Gesellschaft ehrlich sind, in unserer Vorstellung ja eigentlich so, dass alle Menschen so leben sollten wie wir. Nach unseren Maßstäben, nach unseren Werten, nach unseren Idealen, nach unseren Regeln.

Deshalb können wir auch nicht verstehen, dass viele Millionen Menschen in den USA, in Südamerika, in Asien oder in Afrika bei einer Fußball-Weltmeisterschaft in einem Land mitfiebern, das bei den Menschenrechten versagt und bei den Stadionbauten den Tod tausender Wanderarbeiter billigend in Kauf nimmt. Und die deutsche Mannschaft wurde bekanntlich Moral-Weltmeister.

Aber da beginnt das Problem. Nicht beim Fußball, sondern bei der deutschen Doppelmoral. Wir kritisieren zu Recht den Umgang mit Fremdarbeitern in Katar, lassen in Deutschland aber zugleich schlimmste Arbeitsbedingungen für Osteuropäer in der Fleischindustrie, in der Agrar- und zum Teil auch in der Bauindustrie zu. Der „Arbeiterstrich“ für Roma aus Rumänien und Bulgarien gehört in vielen deutschen Großstädten zum Alltag. Mit Blick auf die Prostitution in Deutschland sprechen Experten von einer Versklavung osteuropäischer und afrikanischer Frauen. Wer mag da schon genau hinsehen?

Ein anderes Beispiel: Nach dem russischen Überfall auf die Ukraine brauchte Deutschland neue Gasquellen. Der deutsche Wirtschaftsminister Robert Habeck reiste unter anderem nach, genau, nach Katar, verbunden mit einer etwas zu tief geratenen Verbeugung vor dem dortigen Energieminister Saad Scharida al-Kaabi, und sicherte von 2026 an Lieferungen von jährlich zwei Millionen Tonnen LNG-Flüssiggas. Einige Wochen später eröffnete Deutschland in Wilhelmshaven den ersten schwimmenden LNG-Terminal für Flüssiggas.

Aus Umweltsicht höchst umstritten, von den Grünen stets bekämpft und ein klarer Verstoß gegen den Vertrag der Ampelkoalition, die dem Klimaschutz schriftlich „oberste Priorität“ einräumte. Aber, der Krieg war nicht vorhersehbar - und wir brauchen das Gas. Genauso wie wir offensichtlich die Atomkraftwerke brauchen, deren Laufzeit jetzt „gestreckt“ wurde. Auch das mag richtig sein, passt aber ebenfalls nicht zu den hohen politisch-moralischen Vorstellungen.

Nur am Rande: Voraussetzung für das Abschalten der Atomkraftwerke sowie das Ende des Steinkohle- und Braunkohle-Abbaus ist eine erfolgreiche Energiewende - die in Deutschland seit Jahren leider nicht gelingt. Das ist aber ein anderes Thema und hat weniger mit moralischen Ansprüchen denn vielmehr mit politischen Fehlentscheidungen und überbordender Bürokratie zu tun. Übrigens genauso wie beim ineffizienten öffentlichen Verkehr, bei der stockenden Digitalisierung oder den Problemen in der Bildung, der Pflege und im Gesundheitswesen.

Anspruch und Realität klaffen im deutschen Handeln zu weit auseinander

Die hohen moralischen Ansprüche wiederum gelten für die deutsche Friedenspolitik. Theoretisch zumindest. Natürlich ist der Wunsch nach Frieden auf der Welt richtig! Waffen töten Menschen, zerstören Dörfer und Städte, schaffen Schmerz und Leid. Da lässt die Zahl von 8,35 Milliarden Euro dann aber doch aufhorchen.

In dieser Größenordnung hat die Bundesregierung 2022 deutsche Rüstungsexporte genehmigt. Es ist der zweithöchste Wert in der Geschichte der Bundesrepublik. Zur Wahrheit gehört zwar, dass mehr als ein Viertel der erlaubten Ausfuhren in die von Russland überfallene Ukraine ging. Dann bleiben aber immer noch Ausfuhren deutscher Waffen und Ausrüstung im Wert von mehr als sechs Milliarden Euro in andere Länder der Welt.

Nun mag man diese Liste moralischer Überheblichkeit mit weiteren Beispielen fortsetzen. Man mag auch die Corona-Pandemie oder den Ukraine-Krieg für die vielen Widersprüche zwischen Worten und Taten mitverantwortlich machen. Am Ende bleibt aber die Erkenntnis, dass Anspruch und Realität im deutschen Handeln zu weit auseinanderklaffen. Der erhobene Zeigefinger als Markenzeichen eines vermeintlich modernen Selbstverständnisses wird dieses Land nicht so voranbringen, wie es angesichts zukünftiger Herausforderungen nötig ist.

Etwas mehr Demut und Selbstkritik könnten die ersten Schritte sein. Und je ehrlicher man zu sich selbst ist, desto mehr kann man in der Zukunft bekanntlich besser machen - gerade zu Beginn eines neuen Jahres.

Über den Autor
Andreas Tyrock

Chefredakteur der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung

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