Als ich neulich einen Vortrag des Düsseldorfer Architekten Matthias Pfeifer hörte, ging mir eine Folie seiner Powerpoint-Präsentation nicht aus dem Kopf. Pfeifer hatte illustrieren wollen, dass die Gesellschaft doch nicht immer so visionsarm, fortschrittsskeptisch und zukunftsängstlich gewesen sei wie heute. Dass es vor gar nicht so vielen Jahrzehnten mal eine weit verbreitete Lust an verrückten Entwürfen und kühnen Ideen gegeben habe. Pfeifer warf dazu ein fast 20 Jahre altes Ausstellungsplakat des Rheinischen Industriemuseums Oberhausen an die Wand, das damals den Titel trug: „War die Zukunft früher besser? Visionen für das Ruhrgebiet.“
Die schwarz-gelbe Landesregierung hat sich seit ihrem Amtsantritt 2017 ein neues Nachdenken über das Ruhrgebiet verordnet. „Ruhrkonferenz“ heißt der Prozess, der über alle Politikbereiche möglichst viele Akteure der Region miteinander ins Gespräch bringen soll. Gesucht werden innovative Rezepte für die Zukunftsfähigkeit des größten deutschen Ballungsraums. Statt Milliarden und Masterpläne zu schicken, wie sie im Revier schon so oft verpufften, soll diesmal von unten nach oben gedacht und gemacht werden. Ob das Konzept dieses kreativen Basisprozesses aufgeht, wird man erst 2022 sehen, wenn Leitprojekte entschieden, finanziert und umgesetzt sein sollen.
Nach dem Pfeifer-Vortrag beschäftigt mich dabei vor allem eine grundsätzliche Frage: Wie groß ist überhaupt noch die Bereitschaft im Ruhrgebiet, quer zu denken, sich auszuprobieren, einmal etwas ganz anders zu machen?
Das Talent des Reviers ist gigantisch: Hier leben 5,3 Millionen Menschen auf rund 4,4 Millionen Quadratkilometern. Zwischen Dortmund und Duisburg wohnen damit auf einem Quadratkilometer fünfmal so viele Menschen wie im Rest der Republik. Es gibt wenige Metropolräume der Welt, in denen so viele Nationen und Kulturen so heimatverbunden, liberal und friedlich miteinander auskommen. Und mehr Hochschulen, Kultureinrichtungen, Fußball-Clubs oder Verkehrsanbindungen an den Rest Europas hat auch keine andere Region.
"Seine besten Momente hat das Ruhrgebiet immer dann, wenn es seiner Kreativität freien Lauf lässt."
Prägend für Bild und Selbstbild des Ruhrgebiets ist jedoch weiterhin eine andere Wahrheit. Die Metropole Ruhr ist keine Metropole, sondern eine im Tempo der Montanindustrie gewucherte Ansammlung von Städten. Sie stehen in Konkurrenz zueinander und blockieren sich nicht selten mit diffusen politischen Entscheidungswegen. Vor allem im Norden der großen Kommunen sind die Spuren des bereits in den 1960er Jahren einsetzenden Strukturwandels bis heute überdeutlich. Ehemalige Boom-Viertel des produzierenden Gewerbes mit Arbeiterkultur, Kaufmannschaften, intakten Nachbarschaften und lebendigem Vereinsleben haben sich zu Problemstadtteilen mit überdurchschnittlicher Erwerbslosigkeit, hohen Leerstandsquoten und vielen Migranten gewandelt. Im wohlhabenden Süden altert man dagegen immer häufiger gepflegt in Ein-Personen-Haushalten.
Seine besten Momente hat das Ruhrgebiet immer dann, wenn es seiner Kreativität freien Lauf lässt. Der Gasometer Oberhausen etwa wäre nie zu einem der spannendsten Ausstellungsorte Deutschlands geworden, wenn einst die Ruhrkohle AG genug Geld für den bereits beschlossenen Abriss und mehr Nerv für die Auseinandersetzung mit renitenten Denkmalschützern gehabt hätte. Der Landschaftspark Duisburg-Nord wäre nie zum international gerühmten Spektakel geworden, wenn man auf diejenigen gehört hätte, die warnten, in einem ehemaligen Hüttenwerk verbringe wohl kaum jemand seine Freizeit. Und wäre niemand auf die irre Idee verfallen, ein ausrangiertes Stahlwerksareal zu fluten, hätte Dortmund heute kein vornehmes Wohngebiet „Phoenixsee“. Und dass sich der alte Duisburger Montan-Hafen in eine Logistik-Drehscheibe mit Schienenanbindung nach China verwandeln lässt, kann man eigentlich nur unter Zuhilfenahme von reichlich „KöPi“ erfinden.
Diese Lust am großen Wurf wirkt im Ruhrgebiet ein wenig erlahmt. Wo sind die neuen Spinnereien, aus denen Zukunft entsteht? Warum schaut man sich so wenig ab von der lebendigen Start-Up-Szene des Ruhrgebiets, die seit Jahren großartige Kleinstunternehmen an den Start bringt? Warum rollt man Tausenden Studenten, die nach dem Masterabschluss einfach nur machen wollen, nicht den roten Teppich aus? Gibt es noch die Aufbruchstimmung, die einst Spitzenmedizin ins Ruhrgebiet brachte? Wo sind die Spielwiesen für all die Architekten und Kreativen, die sich hier austoben könnten, wie es niemals im teuren Düsseldorf möglich wäre? Wo ist die Bereitschaft, Vorschriften zu streichen und mal über Stadtgrenzen hinaus etwas gemeinsames Großes auf die Beine zu stellen?
Die Stadtoberen wirken irgendwie eingerichtet in der – nicht ganz falschen – Klage über Altschulden und überbordende Sozialkosten. Grundstücke werden oft für den schnellen Euro mit Baumärkten oder Bauträger-Mittelmaß zugepflastert. In den gutsituierten, urbanen Stadtvierteln will man alles, nur keinen Stau, Lärm oder übergroßen Projektehrgeiz mit ungewissem Ausgang. In den Problembezirken fehlt derweil die Lobby, um sinnvolle Sozialpolitik auch wirklich durchzusetzen. Warum sonst werden inspirierende Ideen wie etwa top ausgestattete „Elite-Schulen“ als wenige Großmagneten für benachteiligte Viertel des Reviers gleich wieder auf „Brosamen für alle“-Format eingedampft?
So kann man dem Ruhrgebiet nur wünschen, dass die Ruhrkonferenz Anlass bietet, sich selbst kritisch zu fragen: „War die Zukunft früher besser?“