Der NRW-Wirtschaftsblog
Klartext
im Westen

Zivilrecht mit Soße

Von Dr. Holger Schrade

Präsident des Landesarbeitsgerichts Hamm und Präsident des Deutschen Arbeitsgerichtsverbands

Dr. Holger Schrade, Präsident des Landesarbeitsgerichts Hamm und Präsident des Deutschen Arbeitsgerichtsverbands, berichtet über das Arbeitsrecht, die Sozialpartner und deren Bedeutung sowie Zusammenarbeit im Deutschen Arbeitsgerichtsverband (DArbGV).

Tief im Westen befindet sich in der Herzkammer unseres Landes die Ruhr-Universität. Bekanntermaßen wird in Bochum Klartext gesprochen. Und das gilt auch für die Hochschule dieser Stadt. Arbeitsrecht sei „Zivilrecht mit Soße“, vermittelte dort der weit über die Grenzen der Ruhr-Universität hinaus in der arbeitsrechtlichen Community bekannte, inzwischen emeritierte Hochschullehrer Rolf Wank.

Bedeutung der Sozialpartner

Da ist etwas dran. Die Befassung mit dem Arbeitsrecht verlangt in besonderer Weise, dass sich seine Anwenderinnen und Anwender in der Praxis einen Blick für die sozialen und wirtschaftlichen Zusammenhänge bewahren. Das gilt auch für die Gerichte. Nicht umsonst ist die Richterbank der deutschen Arbeitsgerichte in allen Instanzen paritätisch mit ehrenamtlichen Richterinnen und Richtern besetzt, die von den Arbeitgeberverbänden und Gewerkschaften vorgeschlagen werden. Hinter der „Richtertheke“ versammelt sich damit, neben der Fachlichkeit der Berufsrichterinnen und Berufsrichter, immer auch betriebspraktische Kompetenz.

Unserem Grundgesetz können wir entnehmen, dass jedermann zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen Vereinigungen bilden kann, die wir Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften nennen. Die Sozialpartner vereinbaren Tarifverträge, die für ihre jeweiligen Mitglieder unmittelbar gelten. Darüber hinaus können ihre Regelwerke eine solche Bedeutung erlangen oder zur Vermeidung wirtschaftlicher Fehlentwicklungen derart notwendig sein, dass die Bestimmungen für allgemeinverbindlich erklärt werden.

Damit kommt den Sozialpartnern im Arbeits- und Wirtschaftsleben unserer Gesellschaft eine herausragende Bedeutung zu. Das Grundgesetz geht davon aus, dass sich zwei gleichgewichtige Verhandlungspartner gegenüberstehen, denen es gelingt, Arbeitsbedingungen ausgewogen abzubilden. Dies rechtfertigt es, ihnen einen weiten Gestaltungsspielraum einzuräumen, der – auch von den Gerichten – grundsätzlich zu akzeptieren ist. Gerät dennoch etwas aus dem Lot, hat das meist erhebliche Folgen. Die derzeitige juristische Auseinandersetzung um tarifvertragliche Nachtzuschläge macht die Dimension deutlich. 250.000 Beschäftigte dürften betroffen sein. Bei den Arbeitsgerichten sind Verfahren mit einem Streitwert anhängig, der auf 50 Mio. Euro beziffert wird. Das Bundesarbeitsgericht hat in seiner dazu ergangenen jüngsten Entscheidung zu Recht betont, dass es im Ermessen der Tarifvertragsparteien liegt, wie mit Nachtzuschlägen umgegangen wird. Eine gerichtliche Angemessenheitskontrolle findet eben nicht statt. Den Sozialpartnern ist das Feld überlassen.

Schwindende Mitgliederzahlen

Gut so. Ein besseres und klügeres System zur Sicherung unserer sozialen Marktwirtschaft haben wir noch nicht gefunden. Doch spiegelt sich das in den Mitgliederzahlen der Sozialpartner nicht wider. Die Zahlen sprechen vielmehr für einen zunehmenden Bedeutungsverlust. 2021 verfügten die DGB-Gewerkschaften über 5,7 Millionen Mitglieder. Zwei Jahrzehnte zuvor waren es noch mehr als 7 Millionen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die durch eine Mitgliedschaft und eigene Beiträge dafür sorgen, das starke Gewerkschaften arbeitsmarkt- und tarifpolitische Aufgaben wahrnehmen können. Von den großen Gewerkschaften ist es nur der IG Metall gelungen, ihre Zahlen zu konsolidieren. Sie setzt ressourcenstark auf mitgliederorientierte Aktivitäten. Im Dienstleistungssektor hingegen sinken die Mitgliederzahlen trotz der dort häufig schwierigen Betriebsstrukturen und der mancherorts bestehenden prekären Beschäftigungsverhältnisse weiter.

Bei den Arbeitgeberverbänden ist die Situation nicht viel besser. Ihnen gelang der Turnaround letztlich, indem Mitgliedschaften ohne Tarifbindung ermöglicht wurden. Auch dadurch steigt seit 2005 die Zahl der Mitgliedsunternehmen wieder. Die Verbandsfinanzen haben sich konsolidiert. Der Preis: Eine dauerhafte Belastungsprobe für die Tarifautonomie.

Soziale Errungenschaften

Heute ist es der europarechtlich überformte deutsche Gesetzgeber, der im Arbeitsrecht besonders erfinderisch und kreativ ist, wenn es darum geht, soziale Errungenschaften zu platzieren. Warum sollte man also noch Mitglied in Gewerkschaften werden oder als Unternehmen einem Arbeitgeberverband beitreten? Brückenteilzeit, Entgelttransparenz und auch der Mindestlohn, dessen Einführung letztlich unerlässlich war, sind nur einige Beispiele. Aber ist das wirklich eine Aufgabe für den Gesetzgeber? Oder übernimmt er zu oft den Job der Sozialpartner?

Im Deutschen Arbeitsgerichtsverband (DArbGV) treffen die wesentliche Akteure des Arbeitsrechts aufeinander, die Arbeitsgerichtsbarkeit, Ministerien, Hochschulen, Fachanwaltschaft – und natürlich und besonders hervorgehoben: die Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften. Die Verbandsarbeit ist trotz – vielleicht gerade wegen – der jeweils unterschiedlichen Positionierung dieser beiden Akteure von konstruktiver und vertrauensvoller Zusammenarbeit geprägt. Das deutsche Arbeitsrecht lässt den Tarifvertragsparteien bewusst große Spielräume für konstruktive Lösungen. Die Tarifvertragsparteien sind es, die den Blick für das wirtschaftlich Machbare und sozial Erforderliche haben. Sie sind es, die dieses grundgesetzlich abgesicherte Handlungsintervall am besten befüllen können. Besser als die Gerichte, besser als der Gesetzgeber. Arbeitsrecht sollte „Zivilrecht mit Soße“ bleiben. Für deren Zutaten sind in unserer Gesellschaft vor allem Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände zuständig.

Über den Autor
Dr. Holger Schrade

Präsident des Landesarbeitsgerichts Hamm und Präsident des Deutschen Arbeitsgerichtsverbands

Zum Autor