Die Herausforderungen, vor denen Politik, Wirtschaft und Gesellschaft bei der Bewältigung der Energiekrise stehen, sind groß. Doch gerade darin liegt eine Chance.
Die Begriff „Krise“ ist allgegenwärtig. Er meint im Grunde eine eher kurze, oft drastische Zuspitzung einer Problemlage mit einer dann meist ebenso drastischen Lösung, auf die eine Wendung, hoffentlich zum Besseren, folgt. Max Frisch hat über diesen Zusammenhang von steigendem Problemdruck und einer Problemlösung, die nur entstehen kann, weil der Problemdruck eine entsprechende Kraft entwickelt, einmal gesagt: „Krise ist ein produktiver Zustand. Man muss ihr nur den Beigeschmack der Katastrophe nehmen.“
So gut, so richtig. Doch nach einhelliger Meinung im politischen und öffentlichen Diskurs stecken wir aktuell nicht nur in einer Krise, sondern sehen uns mit einer ganzen Reihe einander überlagernder und beeinflussender Krisen konfrontiert. Die Fragen, die zunächst zu beantworten sind, lauten: Über welche Krisen sprechen wir konkret? Wie hängen sie zusammen? Was können wir tun, um sie zu bewältigen? Und: In welcher Reihenfolge müssen wir uns ihnen widmen?
Auch wenn das Thema die Schlagzeilen inzwischen nicht mehr dominiert, so ist es immer noch akut: Corona. Die Pandemie hat Spuren hinterlassen, sie hat weltweit Millionen Menschen das Leben gekostet und uns die Fragilität von Gewissheiten in den globalisierten Wirtschaftsbeziehungen drastisch vor Augen geführt.
Corona und Ukraine-Krieg mit Auswirkungen auf Wirtschaftskonjunktur und gesellschaftliche Verfasstheit
Das Thema, das heute die Nachrichten beherrscht, ist der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine. Seit mehr als einem Jahr dauert er nun schon an. Und wie zuvor Corona, so bleibt auch der Krieg nicht ohne Auswirkungen auf Wirtschaftskonjunktur und gesellschaftliche Verfasstheit. Das festzustellen bedeutet ausdrücklich nicht, das Leid der in erster Linie betroffenen Menschen in der Ukraine hintanzustellen. Wenn Deutschland das erklärte Ziel, der Ukraine auf ihrem Weg nach Westen zu helfen, nicht aus den Augen verlieren will, braucht es in unserem Land wirtschaftliche und gesellschaftliche Stabilität.
Während die gesellschaftliche Diskussion um die richtige politische Antwort auf die russische Aggression ähnlich intensiv und polarisierend geführt wird, wie zuvor schon die Debatte um den richtigen Umgang mit der Corona-Pandemie, hat die Politik sich schnell und entschlossen aufgestellt: Die Bundesregierung hat die Voraussetzungen geschaffen, kurzfristig Energiesicherheit auf Grundlage verfügbarer Ressourcen zu gewährleisten, um zukünftig auf andere Energieträger umsteigen zu können, ohne energetisch von Russland erpressbar zu sein.
Relevanter Beitrag der STEAG zur Versorgungssicherheit
Als Vorsitzender der STEAG-Geschäftsführung erfüllt es mich durchaus mit Stolz, dass wir mit unseren Steinkohlekraftwerken im Ruhrgebiet und im Saarland und gemeinsam mit unseren Beschäftigten in der Lage waren, in kürzester Zeit einen relevanten Beitrag zur Gewährung von Versorgungssicherheit in Deutschland und zur Vermeidung der befürchteten Gasmangellage zu leisten. Wir haben 2,5 Gigawatt Erzeugungskapazität an den Markt gebracht, das ist deutlich mehr, als jeder andere Kraftwerksbetreiber mobilisieren konnte. Diese Erzeugungskapazität steht seit November 2022 rund um die Uhr und an sieben Tagen in der Woche zur Verfügung, wenn durch andere Stromerzeugungsquellen der Strombedarf unserer Volkswirtschaft nicht gedeckt werden kann. STEAG hat in ihren Steinkohleanlagen in Deutschland im vergangenen Jahr rund 70 Prozent mehr Strom erzeugt als 2021. Rechnerich entspricht dieser Zuwachs mehr als der Hälfte des Rückgangs der Stromerzeugung in Gaskraftwerken.
Die Bereitstellung von dringend gebrauchter zusätzlicher Kraftwerksleistung ließ sich freilich nicht mit einfachem Fingerschnippen erledigen. Große logistische, technische, finanzielle und nicht zuletzt personelle Herausforderungen musste STEAG bei der Marktrückkehr der Kraftwerke bewältigen.
Um das besser zu verstehen, muss ich kurz ausführen, in welcher Situation STEAG im Februar 2022 war, ehe der russische Angriff auf die Ukraine losbrach: Damals gingen wir davon aus, den unternehmenseigenen Ausstieg aus der Steinkohleverstromung bis Ende Oktober 2022 fast vollständig eingeleitet zu haben. Nur der moderne Block Walsum 10 in Duisburg wäre nach dieser Planung noch am Markt gewesen.
Damit verbunden gewesen wäre freilich auch der Abbau von qualifizierten und gut bezahlten Arbeitsplätzen im Ruhrgebiet und im Saarland, denn wo kein Kraftwerk mehr betrieben wird, braucht es auch keine Kraftwerker mehr. Weil der Prozess des Kohleausstiegs seit 2020 gesetzlich verankert ist, hatten wir uns langfristig darauf eingestellt. Ein Gutteil unserer Beschäftigten insbesondere an den Kraftwerksstandorten hätte mittels Übergangsregelungen direkt in den Ruhestand wechseln können.
Enormer Kraftakt und großer Einsatz der Beschäftigten
Mit der neuen und völlig veränderten Lage und einer Beschäftigungsperspektive durch das Ersatzkraftwerkebereithaltungsgesetz mindestens bis 2024 begannen wir im Sommer 2022, hinreichend starke Kraftwerksmannschaften für unsere Standorte zu rekrutieren. Dass dies letztlich geklappt hat, war einem enormen Kraftakt und dem guten Willen vieler Beschäftigter geschuldet, die ihre persönliche Lebensplanung kurzerhand geändert und ihren Ruhestand verschoben haben, um einen persönlichen Beitrag zur Lösung der aktuellen Versorgungskrise zu leisten. Ihnen schulden wir großen Dank.
Doch nicht nur der vorübergehende Weiterbetrieb der Steinkohlekraftwerke erfordert geschultes Fachpersonal. Auch die künftig für die Sicherung unserer Energieversorgung notwendigen Technologien, etwa im Bereich der Wasserstoffwirtschaft, benötigen hinreichend Expertinnen und Experten, damit der Hochlauf dieses neuen Wirtschaftszweigs gelingen kann.
Diesen wiederum braucht es, um als Gesellschaft der wohl größten Herausforderung in Form der Klimakrise wirkungsvoll begegnen zu können. Hier zeigt sich, dass die Energiewirtschaft gewissermaßen in der Schnittmenge aller unterschiedlichen Krisen und Herausforderungen liegt. Umgekehrt heißt das, dass die Energiewirtschaft einen wichtigen Beitrag zur Krisenbewältigung leisten kann:
Energieunabhängigkeit von Russland
Wir sorgen als Branche für Energieunabhängigkeit von Russland und tragen so dazu bei, das geopolitische Erpressungspotenzial des Putin-Regimes zu reduzieren.
STEAG und ihre Marktbegleiter entwickeln Lösungen für die energetischen Bedarfe von morgen, indem wir klimafreundlichen Wasserstoff produzieren, der insbesondere bei der Transformation der in Nordrhein-Westfalen stark vertretenen Stahlindustrie, aber auch in den anderen in Deutschland beheimateten Industriezweigen dringend gebraucht wird. Damit leistet die Energiewirtschaft nicht nur einen Beitrag zum Schutz des Klimas, sondern auch zur Sicherung wichtiger und qualifizierter Arbeitsplätze in Deutschland – und damit zum Wohlstand in unserer Gesellschaft.
Allerdings: Krisen zu analysieren, Herausforderungen zu erkennen und Lösungsstrategien zu entwickeln, ist das eine. Ein anderes ist es, die politischen Weichen entsprechend zu stellen, dass Lösungsstrategien dann auch umgesetzt werden können. Zwar hat die Bundesregierung in ihrem Koalitionsvertrag den Weg in eine perspektivisch klimaneutrale Energiewirtschaft durchaus korrekt skizziert. Was noch fehlt, sind konkret definierte Rahmenbedingungen, damit Unternehmen gerade beim Thema Wasserstoff hinreichende Investitionssicherheit haben. Bei der Frage, welche Wasserstoffprojekte als „Important Projects of Common European Interest“ – kurz: IPCEI – gelten und damit von der Bundesregierung gefördert werden können, warten wir bereits seit mehr als 18 Monaten auf eine Entscheidung der Europäischen Union.
Das dauert definitiv zu lange. Was es für die Wasserstoffprojekte jetzt braucht, ist das gleiche Tempo, mit dem die Flüssiggasterminals an Deutschlands Küsten geplant und gebaut worden sind!
Fakt ist: Den Großteil des grünen Wasserstoffs, den Deutschland in Zukunft für die Dekarbonisierung seiner Industrie benötigt, werden wir importieren müssen. Um aber nicht in eine erneute, gefährliche Abhängigkeit von ausländischen Lieferanten zu geraten, ist es ebenso notwendig, parallel ausreichend inländische Erzeugungskapazitäten für eine Grund- oder Mindestversorgung aufzubauen.
Dies umfasst auch den Bau eines Wasserstoff-Pipelinenetzes, was jedoch zusätzliche Zeit in Anspruch nehmen wird. Deshalb sollten gerade in der Hochlaufphase der Wasserstoffwirtschaft zunächst die Projekte realisiert werden, die eine verbrauchsnahe H2-Erzeugung ermöglichen.
Versorgungssicherheit gewährleisten und Dekarbonisierung ermöglichen!
In diesem Bereich sind wir als Unternehmen engagiert: In Duisburg-Walsum und im saarländischen Völklingen-Fenne planen wir die Produktion von grünem, also klimaneutralen Wasserstoff im industriellen Maßstab. Wir entwickeln diese Projekte unter der neuen Marke Iqony.
Iqony steht sinnbildlich für eine erfolgreiche Transformation: Wir haben unseren Konzern unter dem Dach der STEAG GmbH als Holding zu Beginn dieses Jahres in zwei unterschiedliche und strikt getrennt voneinander operierende Teilkonzerne aufgeteilt: das schwarze Kraftwerksgeschäft und das grüne Wachstumsgeschäft. Wir sind überzeugt, dass wir mit dieser Neuaufstellung den Markt- und Kundenerfordernissen viel besser gerecht werden können. Mit STEAG Power als Garantin von Versorgungssicherheit mit ihren konventionellen Steinkohleanlagen und mit der Iqony GmbH, in der alle Zukunfts- und Wachstumsthemen beheimatet sind – von den erneuerbaren Energien über Wasserstoff bis hin zu Speichertechnik und Energielösungen für die Dekarbonisierungspfade von Industrie und Kommunen.
Beide Teile unseres Konzerns leisten für sich wichtige Beiträge zur Lösung der derzeitigen Problemlagen, vor die Wirtschaft und Gesellschaft gestellt sind: Versorgungssicherheit gewährleisten und Dekarbonisierung ermöglichen!
Insofern wissen wir aus eigener Erfahrung: Je größer der Druck, desto größer die Chance auf eine wirklich grundlegende Lösung. Deshalb bin ich überzeugt, dass Deutschland die Transformation seiner Energiewirtschaft und unserer Volkswirtschaft insgesamt gelingen wird.