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aus NRW

Wüst glänzt als Kapitän – obwohl das „Team Schwarz-Grün“ Fehlpässe und Eigentore produziert - Gerhard Voogt (KStA)

Von Gerhard Voogt

Leitender Redakteur und Landeskorrespondent des „Kölner Stadt-Anzeiger“

Gerhard Voogt, Leitender Redakteur und Landeskorrespondent des KStA, mit seiner Halbzeitbilanz zur Mitte der Legislaturperiode in NRW.

Ein Selfie zeigt Hendrik Wüst gemeinsam mit seinem Friseur in seiner Heimatstadt Rhede. Der Ministerpräsident von NRW sitzt mit Umhang auf dem Frisierstuhl, der ältere Herr legt ihm die Hände auf die Schulter. Wüst hat das Bild jetzt bei Facebook veröffentlicht. Der Friseur ist verstorben. Er sei sein Freund und ein echtes Original gewesen, den er sehr vermissen werde, schreibt der Regierungschef. Eine schöne Geste. 

Wenn der hochgewachsene Regierungschef sich selbst inszeniert, lässt er es gerne menscheln. Auf seinem Facebook-Kanal veröffentlicht er nicht nur wichtige Auftritte, bei denen er im Anzug am Rednerpult zu sehen ist. Zu erfahren ist auch, dass er ein Fan von Rindsroulade, grober Bratwurst und Musik von Queen ist. Die Kombination aus Nahbarkeit und Kompetenz kommt bei vielen gut an. Mittlerweile gehört der Chef der NRW-CDU nach Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) und dem bayerischen Ministerpräsidenten Markus Söder (CSU) zu den beliebtesten Politikern in Deutschland.

Wüsts Kombination aus Nahbarkeit und Kompetenz kommt bei vielen gut an

Am 27. Juni 2022 haben Wüst und seine heutige Stellvertreterin Mona Neubaur den Koalitionsvertrag unterzeichnet. Im Düsseldorfer Künstlerverein Malkasten wurde das erste schwarz-grüne Regierungsbündnis der Landesgeschichte besiegelt. Der Vorgang hatte bundesweite Relevanz. Sollte der Pakt in Düsseldorf funktionieren, könnte er 2025 zur Blaupause für Schwarz-Grün im Bund werden.

Wüst hatte sich 2021 als Nachfolger von Armin Laschet in der NRW-CDU durchgesetzt und bei der Landtagswahl im Mai 2022 mit 35,7 Prozent ein unerwartet gutes Ergebnis erzielt. Der Erfolg spülte Wüst sogleich in die Riege der möglichen Kanzlerkandidaten der Union. Bundesweit bekannt war der Hoffnungsträger durch seine Präsenz in den Hauptnachrichten geworden, als NRW in der Pandemie turnusgemäß den Vorsitz in der Ministerpräsidentenkonferenz übernommen hatte.

Hohe Zustimmungswerte sind die härteste Währung für Politiker. Wüst versteht es geschickt, sich aus unangenehmen Themen herauszuhalten. Er gibt sich als staatsmännischer Krisenmanager und wirbt für eine Allianz der Mitte. Wenn in der Koalition es darum geht, Scherben aufzukehren, rücken die Kolonnen auf der Arbeitsebene aus. Das kommt regelmäßig vor - die Leistungsbilanz der einzelnen Ressorts ist zum Teil mehr als durchwachsen. Vor allem die Minister der Grünen produzieren negative Schlagzeilen.

Leistungsbilanz der einzelnen Ressorts

Justizminister Benjamin Limbach muss einem Untersuchungsausschuss erklären, warum er eine Duz-Freundin zur Chefin des Oberlandesgerichts machen wollte. Er traf die Ex-Kollegin bei einem privaten Abendessen, danach wechselte die Frau im Bewerbungsverfahren auf die Überholspur. Auf Limbach hageln Klüngel-Vorwürfe ein.

Parteikollegin Josefine Paul wirkt als Flüchtlingsministerin überfordert. Nach dem Attentat von Solingen tauchte sie tagelang ab, ehe sie Fehler bei den Ausländerbehörden einräumte. Der Attentäter war abschiebpflichtig, hätte das Land längst verlassen müssen.

Auch in der Wirtschaftspolitik läuft es nicht rund. Mona Neubaur will NRW bei der Transformation zur klimaneutralen Industrieregion zum Vorreiter in Europa machen. „Von der Kohle zur KI“, lautet der dazu passende Slogan. Zum Motor des Zeitenwandels soll die Standortpolitik werden. Ein dicker Fisch ist bereits ins Netz gegangen. Dass Microsoft in Deutschland 3,2 Milliarden Euro, insbesondere im Rheinischen Revier investiert, reklamiert Schwarz-Grün für sich als Erfolg.

Das Tempo der Transformation hängt aber stark vom Zeitpunkt des Kohleausstiegs ab. Das proklamierte Ausstiegsziel 2030 dürfte wohl nur schwer zu erreichen sein. Bei der Genehmigung der Gaskraftwerke, die die Energieversorgung sichern sollen, geht es nicht voran. Für die Fertigstellung sind wohl mindestens sechs bis sieben Jahre zu veranschlagen. 

Blick auf die Wirtschafts- und Standortpolitik

Besser sieht es beim Ausbau der Windkraft aus. Seit Beginn der Legislaturperiode wurden mehr als 290 Anlagen in Betrieb genommen, 878 genehmigt. Insgesamt sind in NRW 3795 Anlagen mit einer Leistung von 7 563 Megawatt in Betrieb. Wenn der Wind weht, könnte damit der Stromverbrauch von 5,3 Millionen Haushalten gedeckt werden. Gleichzeitig sind 2023 Photovoltaikanlagen ans Netz gegangen. Das sind mehr als doppelt so viele wie 2022.

Mit solchen Nachrichten können vor allem die Grünen punkten. Neubaur wiederholt die Zahlen regelmäßig, wenn sie vor Unternehmern auftritt. Es tut gut, Optimismus zu verbreiten. Denn die Zeiten sind schlecht. NRW rutscht immer tiefer in die Wirtschafts- und Strukturkrise ab. 

Hohe Energiekosten dämpfen das Wachstumspotential und bremsen nötige Investitionen aus. Die Insolvenzzahlen steigen, zahlreiche Unternehmen erwägen die Verlagerung ihrer Betriebe ins Ausland. Gleichzeitig gehen immer mehr gutbezahlte Industriearbeitsplätze verloren. Ford will 2900 Jobs in Köln streichen. Bei Miele in Gütersloh fallen 2000 Arbeitsplätze weg, auch Vodafone in Düsseldorf will 2000 Stellen abbauen.

Besonders schmerzlich ist die Entwicklung bei Thyssenkrupp für Schwarz-Grün, wo ebenfalls tausende Stellen wegfallen sollen. Dabei hatte die Landesregierung die Förderungen der Direktreduktionsanlage mit bis zu 700 Millionen Euro als größte Einzelförderung in der Geschichte des Landes ins Schaufenster gestellt. Jetzt entsteht der Eindruck, dass die Landesregierung auf der Zuschauerbank sitzt und der Umsetzung der Konzernplänen nur ohnmächtig zugucken kann. Die NRW-SPD frohlockt schon, dass sie Bundeskanzler Olaf Scholz im Wahlkampf bei einem Besuch in Duisburg als Jobretter inszenieren kann.

“Viele der Maßnahmen wirken wie ein Tropfen auf den heißen Stein.”

 

Sorgen um die Zukunft des Wirtschaftsstandorts NRW werden beim Blick auf den Zustand der Verkehrswege nicht geringer. Die Rahmede-Talbrücke bei Lüdenscheid und die A-1-Rheinbrücke in Leverkusen sind Mahnmale für den Zerfall der Infrastruktur in NRW. In ihren Koalitionsvertrag haben sich CDU und Grüne darauf verständigt, keine neuen Verbindungen zu bauen, sondern die vorhandenen Straßen instand zu setzen. 220 Millionen Euro stehen 2024 für die Sanierung von Straßen und Brücken zur Verfügung. Im Rahmen eines Pakets zur Planungs- und Genehmigungsbeschleunigung soll jetzt eine zentrale Behörde für die Genehmigung von Großraumtransporten geschaffen werden.

Viele der Maßnahmen wirken wie ein Tropfen auf den heißen Stein. So wurden durch eine Beschäftigungsoffensive bis 2023 fast 500 zusätzliche Lokführer qualifiziert, um die Ausfälle im Bahnverkehr zu bekämpfen. Um den Umstieg aufs Rad zu fördern, konnten rund 250 Kilometer Fahrradwege fertiggestellt werden. An der Lage der Auto-Pendler hat sich nicht verbessert. Laut ADAC summierte sich Stau auf den 2200 Autobahnkilometern in NRW auf gut 143 600 Stunden. Das sind 38 Prozent mehr als 2022. 

Viele Arbeitnehmer sehen sich nicht nur durch die grüne Verkehrspolitik ausgebremst. Berufstätige Mütter und Väter, die zur Arbeit gehen wollen, sind in hohem Maße darauf angewiesen, dass die Betreuung der Kinder zuverlässig funktioniert. Der Unterrichtsausfall steigt aber kontinuierlich an - im ersten Halbjahr 2023/2024 fand jede fünfte Unterrichtsstunde nicht wie geplant statt.

Leistungsbilanz von Kitas und Schulen kann nicht zufriedenstellen

 

Besonders ärgerlich ist die Situation an den Kitas. Die Zahl der Einrichtungen, die Gruppen schließen mussten, hat ein Rekordniveau erreicht. Im September 2024 haben 3841 der rund 10 800 Kitas Gruppen dicht gemacht. Eine neue Personalverordnung von Familienministerin Josefine Paul (Grüne), die einen flexibleren Personaleinsatz ermöglichen wird, soll den Schmerz der betroffenen Eltern und den der Arbeitgeber jetzt lindern. Die Opposition kritisiert, dass die Kitas zu Verwahranstalten degenerieren.

Für den Bildungsbereich stellt Schwarz-Grün im Haushalt 2025 die Rekordsumme von 41,6 Milliarden Euro bereit. Der Schulhaushalt ist mit 21,8 Prozent des Gesamthaushalts der deutlich größte Einzeletat. Sehr viel Geld wird dafür ausgegeben, um die Gehälter der Grundschullehrer anzuheben. Das mag den Job attraktiver machen. Ob der Unterricht besser wird, darf bezweifelt werden.

Die Leistungsbilanz von Kitas und Schulen kann jedenfalls nicht zufriedenstellen. Fast ein Drittel der Kinder in NRW können zum Zeitpunkt der geplanten Einschulung nicht richtig sprechen und verstehen. Und die Zahl der Jugendlichen, die die Schule ohne Abschluss verlassen, ist 2023 in NRW auf 11 835 angestiegen. Sie sind auf dem Arbeitsmarkt so gut wie chancenlos.

Schwarz-Grün als Gegenmodell zum Streit in der Ampel

Trotz der großen Probleme in vielen Bereichen funktioniert die Koalition von CDU und Grünen bislang ohne vernehmbare Konflikte. Man inszenierte sich ganz bewusst als Gegenmodell zum Streit in der Ampel. Das „geräuschlose“ Zusammenarbeit fällt allerdings nicht immer leicht. 

Während Wüst und Neubaur sich offenbar aufrichtig gut verstehen, bleiben zwischen den Fachpolitikern der Fraktionen Ressentiments spürbar. Die CDU beklagt, dass zu hohe Umweltstandards die Genehmigung von Baumaßnahmen in die Länge ziehen. Die Rückkehr der Weißstörche sei ein Erfolg, der sich im Wahlergebnis wohl kaum auszahlen werde, heißt es bei der Union. 

Für Genugtuung sorgte, dass die Grünen bei der Verabschiedung des Sicherheitspakets nach dem Anschlag von Solingen sich von Grundpositionen verabschieden mussten. Der Verfassungsschutz darf künftig Trojaner gegen Terrorverdächtige einsetzen, mit denen die Ermittler in Handys einschleusen und Nachrichten mitlesen kann. Vor Jahren waren die Grünen noch Sturm gegen solche Pläne gelaufen. NRW-Innenminister Herbert Reul (CDU) kann mit dem Fortschritt hochzufrieden sein.

Der Politiker aus Leichlingen gehört zu den tragfähigsten Stützpfeilern der NRW-Koalition. Reul steht für den Law-and-Order-Kurs der CDU setzt die harte Linie gegen die Clan-Kriminalität konsequent fort. In der Polizei genießt NRW-Innenminister hohen Respekt. Noch nie wurden in NRW mehr Polizisten eingestellt als in seiner Amtszeit, in schwierigen Lagen eilt Reul umgehend an den Einsatzort. Für einen Image-Dämpfer sorgte zuletzt allerdings der Skandal um Luxus-Schleuser, bei dem der Innenminister von einem der Tatverdächtigen Wahlkampfspenden erhalten hatte.

Wüsts Verwandlung vom Hardliner zum Grünen-Versteher

Wie geht es weiter mit Schwarz-Grün in NRW? In der Frage der Kanzlerkandidatur ließ Wüst Friedrich Merz lange zappeln, bevor er proklamierte, eigene Ambitionen vorerst zurückzustellen. Vieles spricht also dafür, das Wüst bei der nächsten Landtagswahl 2027 erneut ins Rennen geht. 

Seine Erfolgschancen stehen nicht schlecht, wenn es ihm gelingt, seine bisherige Strategie bis dahin durchzuhalten. Die besteht vor allem darin, sich aus dem inhaltlichen Diskurs der einzelnen Ressorts herauszuhalten. Skandale und offensichtliche Pannen scheinen an ihm abzuperlen. So spendet das Publikum beim Halbzeitpfiff überwiegend freundlichen Applaus. Wüst hat das Glück, dass sein gutes Image als Kapitän den Blick auf technische Fehler, Fehlpässe und die hohe Eigentor-Gefahr im Team Schwarz-Grün verstellt.

Die älteren Semester unter den Lenkern der NRW-CDU bemerken bisweilen etwas abschätzig, dass der Ministerpräsident ja mittweile „jedes Schlagloch weiträumig“ umfahre. Das sei ja schließlich nicht immer so gewesen, heißt es. In seiner politischen Jugend war Wüst ein reizbarer konservativer Haudegen. Das gefiel dem damaligen Ministerpräsidenten Jürgen Rüttgers, der Wüst zu seinem Generalsekretär machte. Die Mission scheiterte kläglich, ebnete Rot-Grün den Weg in die Staatskanzlei. 

Heute gibt sich Wüst geläutert, verweist darauf, älter und ruhiger geworden zu sein. Er ist mittlerweile verheiratet und Vater einer kleinen Tochter. Die Verwandlung vom Hardliner zum Grünen-Versteher hat sich ausgezahlt. In seiner Partei ist er als Chef des größten Landesverbands respektiert und anerkannt. Sollte Merz bei der Bundestagswahl scheitern, ginge bei der Wahl eines neuen Frontmanns wohl kein Weg mehr an Wüst vorbei.

Über den Autor
Gerhard Voogt

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