Deutschland steckt mitten in einer Wirtschaftskrise. Während sich Bundespolitiker im bereits überhitzten Turbo-Wahlkampfmodus mit allerlei Versprechungen für die Zukunft überbieten, analysiert NRW- Unternehmerpräsident Arndt G. Kirchhoff im Gespräch mit der WESTFALENPOST, wo das Land wirklich steht, warum es für einen Abgesang auf die deutsche Automobilwirtschaft keinen Grund gibt und was nötig ist, um die Deindustrialisierung am Standort Deutschland zu stoppen.
Herr Kirchhoff, wie blicken Sie gerade auf das politische Berlin vor dem Regierungswechsel?
Arndt G. Kirchhoff: Was mir gut gefällt, ist, dass der Wahlkampf nicht so lange dauern wird. Was wir aber nicht brauchen, ist eine Politschlammschlacht, wie sie sich gerade abzeichnet. Ich erwarte, dass wir zu einem echten wirtschaftspolitischen Kurswechsel kommen. Noch sind wir ein Industrieland, aber die Verunsicherung in Unternehmen und der Bürgerinnen und Bürger nimmt enorm zu. Das zeigt sich in einbrechenden Investitionen und einer sinkenden Konsumquote, gleichzeitig steigt aber die Sparquote. Keine gute Entwicklung!
Ein kurzer Rückblick: Vor einem Jahr haben Sie gewarnt, die „Ampel“ steuere Deutschland in die Krise. Hat die Koalition aus FDP, Grünen und SPD alles falsch gemacht?
Das wäre mir zu pauschal. Sie hat auch Probleme gelöst, Dinge richtig gemacht. Beim Ausbau der Flüssiggasterminals (LNG) an der Nordseeküste etwa haben wir erlebt, dass ein neues Deutschlandtempo möglich ist. Und selbst bei der Deutschen Bahn haben wir bei der Sanierung der 70 Kilometer langen Riedbahn zwischen Frankfurt und Mannheim in nur fünf Monaten gesehen, dass es auch schneller gehen kann. Aber das sind leider nur Eintagsfliegen.
Wieso ist aus Ihrer Sicht zu wenig gut gelungen?
Um das nötige hohe Tempo erreichen zu können wie bei den LNG-Terminals, hat die Politik Regeln verändert. Das hätte allerdings in vielen anderen Bereichen genauso passieren müssen: Bei dem Ausbau des Stromnetzes, bei der Ausweisung von Industriegebieten, bei der Genehmigung von Windkraftanlagen und auch beim Hausbau. Doch das ist leider ausgeblieben.
Warum klappt das nicht immer?
Es liegt auch daran, dass wir zu viel Ideologie auf dem politischen Spielfeld haben. Eines muss wieder in die Köpfe: Der Staat sollte in unserer Sozialen Marktwirtschaft Schiedsrichter sein, aber nicht selbst auf dem Spielfeld stehen und das Spiel bestimmen wollen.
Welche Art Schiedsrichter wünschen Sie sich in Zukunft?
Einen, dem Marktwirtschaft vor Planwirtschaft geht. Dazu gehört Technologieoffenheit, statt diktieren zu wollen, welche Heizung, welche Antriebsart beim Auto und welche Lebensweise die richtige ist.
Also müssen wir bei der Klimawende auf die Bremse treten? Halten Sie es für richtig, beim Atom- und Kohlestrom das Rad zurückzudrehen?
Beim Atomstrom ist es natürlich besonders schwierig. Dafür gibt es kaum gesellschaftliche Akzeptanz und es wäre vermutlich auch sehr teuer. Bei der Kohle zeichnet sich ab, dass Wirtschaftsminister Habeck den frühzeitigen Ausstieg verspielt hat. Ein Verzicht auf Kohlestrom ab 2030 ist derzeit völlig unrealistisch. Es werden keine dafür notwendigen Gaskraftwerke gebaut, weil Habeck keine verlässlichen Rahmenbedingungen geschaffen hat. Das war kollektive Arbeitsverweigerung der Ampel!
Was ist aus Ihrer Sicht das größte Problem für die Wirtschaft in Deutschland? Die Energiekosten, die Bürokratie, Arbeitskosten oder die Steuer- und Abgabenlast für Unternehmen? Was ist der Hauptgrund für die Deindustrialisierung?
Am Ende ist es die Summe aus allem, aber das drängendste Problem sind eindeutig die Energiekosten. Der Kunde bezahlt uns das nicht mehr. Die 20 Prozent weniger Industrieproduktion in Deutschland seit 2018 rühren hauptsächlich daher, dass andere Standorte günstiger sind. Das betrifft vor allem Deutschland. Doch auch viele andere Länder Europas haben Probleme. Wir brauchen bei der Energieversorgung endlich ein gemeinsames Handeln und einen deutschen Wirtschaftsminister, der sich dafür in Brüssel stark macht. Das wäre übrigens auch beim Einsatz gegen Extrazölle auf E-Autos aus China notwendig gewesen. Die nutzen niemandem.
Aber schützen sie nicht insbesondere die angeschlagene deutsche Automobilbranche?
Die deutsche Autoindustrie ist ziemlich gesund!
Das überrascht.
Die deutsche Automobilindustrie investiert weltweit das meiste Geld in Forschung und Entwicklung. In den nächsten vier Jahren werden das 280 Milliarden Euro sein. Dazu noch 130 Milliarden Euro, die in den Umbau von Werken fließen werden. Die Frage ist allerdings, ob diese Zukunftsinvestitionen an deutschen Standorten oder anderswo umgesetzt werden. Und wir werden auch weiter Autos verkaufen. In Europa sind 20 Prozent des Marktes deutsche Fabrikate. In China waren es 30 Prozent. Das war eine tolle Zeit, die ist nun vorbei. Wenn wir dort in Zukunft noch 20 Prozent haben, ist es aber immer noch gut. In Amerika sind es nur 10 Prozent, da ginge mehr.
Aber Deutschland hinkt bei den Elektroautos hinterher. Da wurden wir von Tesla und nun den vielen chinesischen Marken abgehängt, oder?
Wir sind absolut nicht abgehängt. Wir haben in den vergangen Monaten Oktober und November jeweils 140.000 Elektroautos in Deutschland gebaut. Im kommenden Jahr werden es 1,4 Millionen sein. Noch sind wir im Vergleich zu den Chinesen zu langsam, aber das ändert sich. Ich bin da nicht so pessimistisch.
Und trotzdem droht Deutschland 2025 ein Jahr der Entlassungen, allein wenn man an VW denkt.
Mich wundert es, dass die Entwicklung in der Industrie jetzt viele so überrascht. Ich weise seit langem darauf hin, dass unsere deutschen Standorte international nicht mehr wettbewerbsfähig sind. Wir sind zu teuer. Und das muss sich ändern.
Die deutsche Industrie mit ihren Ingenieuren wurde mehr als ein Jahrhundert lang bewundert. Heute entscheidet sich Spitzentechnologie bei Softwareentwicklung und IT und die Asiaten haben massenweise Spezialisten dafür. OECD-Studien belegen, dass sowohl Kinder als auch Erwachsene in Deutschland nur mittelmäßig gebildet sind. Das lässt nicht erwarten, dass wir in Zukunft noch vorne mithalten können.
Heute hat die Frage der Wettbewerbsfähigkeit des Standortes Deutschland vor allem etwas mit den zu hohen Kosten zu tun. Aber es stimmt, langfristig geht es um die Bildung bei uns. Noch haben wir Spitzenforschung an unseren Universitäten, aber wir müssen jetzt endlich bei den Kleinsten anfangen. Es wäre schon gut, wenn jedes Kind einen Kindergartenplatz bekommt. Das ist die erste Voraussetzung. Und statt die letzten beiden Kindergartenjahre kostenfrei zu lassen, sollte das Geld von denen, die es bezahlen können, ins System fließen. Statt kostenfrei sollten die beiden Kindergartenjahre verpflichtend sein, ähnlich wie bei der Vorschule in England. Genauso wichtig ist es, dass das KITA-Angebot größer wird. Nur wenn beides gelingt, dann können alle Kinder sozialisiert werden, und sie beherrschen auch die deutsche Sprache, wenn sie in die Grundschule kommen. Dann können sie dort auch viel leichter Lesen, Schreiben und Rechnen lernen. Wenn wir das heute tun, dauert es immer noch 10 bis 15 Jahre bis bessere Bildung wirkt, die Deutschland so dringend braucht. Hier muss massiv investiert werden, das wäre wirklich sinnvoll.
Das Interview ist am 27. Dezember 2024 in der Print-Ausgabe der Westfalenpost erschienen sowie online: