"Es ist jetzt sechs Jahre her, als die Politik beschloss, mit der Einführung des gesetzlichen Mindestlohns massiv in die Tarifautonomie einzugreifen. Es sollte einmalig bleiben, wurde eilig versichert. Darum hatte sie auch einer unabhängigen, aus Vertretern von Arbeitgebern, Arbeitnehmern und der Wissenschaft besetzten Kommission die Entscheidung überantwortet, über die regelmäßige Anpassung des Mindestlohns zu befinden. Deren Orientierungs-Maßstab sollte die allgemeine Tarifentwicklung sein. Und zugleich hatte man der Mindestlohn-Kommission noch einen wichtigen gesetzlichen Auftrag mit auf den Weg gegeben: In ihren Entscheidungen sollte sie die Wettbewerbsbedingungen und die Beschäftigung im Auge behalten. Dieser Vorgabe ist sie bisher stets gerecht geworden.
Wer allerdings gehofft hatte, dies alles hätte die politische Debatte befriedet, sieht sich in schöner Regelmäßigkeit eines Besseren belehrt. Pünktlich zu Wahlkampfzeiten meldet sich auch jetzt die parteiübergreifende Vereinigung der deutschen Sozialpolitik zu Wort, deren Protagonisten einmal mehr eine deutliche und zudem willkürliche Anhebung des gesetzlichen Mindestentgelts fordern. Die von der Kommission beschlossene stufenweise Aufstockung bis auf 10,45 € Mitte 2022 reicht ihnen allemal nicht aus: CDA-Chef Laumann passt das ganze Verfahren nicht und sieht im Ergebnis deutlich Luft nach oben. Geht es nach dem Willen der Bundesminister Heil und Scholz sowie den Grünen, sollten es 12 Euro schon sein. Noch mehr – nämlich 13 Euro – hätte gern die Linke.
Es ist doch paradox: Ausgerechnet die Politiker, die in Sonntagsreden gern das hohe Lied auf die Tarifautonomie anstimmen, wollen sie noch mehr beschneiden. Dass ein Mindestlohn von 12 Euro und mehr aber in etwa rund 200 Tarifverträge eingreifen würde und gleich mehr als 570 tariflich ausgehandelte Lohngruppen aushebeln dürfte, ficht sie offenkundig nicht an. Und dass sie der ohnehin schon angeschlagenen Tarifautonomie in unserem Land einen weiteren beträchtlichen Schlag versetzen, nehmen sie billigend in Kauf. Lieber riskieren sie einen Dammbruch: Denn es ist absehbar, dass ein im parteiübergreifenden Wettstreit festgesetzter Mindestlohn ganze Tarif-Gitter massiv nach oben treiben und damit in vielen Bereichen das Lohngefüge insgesamt ins Wanken bringen würde.
Dieser Domino-Effekt hätte schwerwiegende Folgen: Denn die Chancen auf dem Arbeitsmarkt würden ausgerechnet für jene Beschäftigtengruppen rapide sinken, denen die staatlichen Lohnregulierer vorgeben, eigentlich helfen zu wolle. Die Arbeitskraft Geringqualifizierter wie An- und Ungelernte sowie Langzeitarbeitslose dürfte für viele Unternehmen endgültig zu teuer werden. Das wäre gerade nach der Corona-Krise ein Bremsklotz für Neueinstellungen. Unverständlich ist auch der Beifall einiger Gewerkschaften für das Gebaren der Politik: Man kann sich schon die Frage stellen, warum sich die Gewerkschaften derart ins eigene Fleisch schneiden und sich ihre wichtigste Aufgabe als organisierte Arbeitnehmervertretung, das Aushandeln von Tarifverträgen, mehr und mehr vom Staat aus der Hand nehmen lassen?
Das Grundgesetz hat den Tarifvertragsparteien – Arbeitgeberverbänden und Gewerkschaften – den Auftrag übertragen, die Entgelte in den einzelnen Branchen autonom zu verhandeln. Damit ist unser Land jahrzehntelang bestens gefahren. Nicht wenige halten die Tarifautonomie sogar für einen Standortvorteil für Deutschland. Die Sozial- und Tarifpartnerschaft hat bislang in hohem Maße tragfähige und verlässliche Ergebnisse erzielt, auch wenn der Ausgleich der Interessen über die Arbeitsbedingungen in den Betrieben oft erbittert geführt wird. Es war also gut für unser Land, dass die Mütter und Väter des Grundgesetzes den Staat hierbei aus dem Spiel genommen haben. Mit der Einführung des gesetzlichen Mindestlohns hat die Politik diese Regel bereits einmal durchbrochen. Sie muss sich jetzt sehr gut überlegen, ob sie aus wahltaktischem Kalkül die Tarifautonomie in Deutschland tatsächlich noch mehr gefährden will."
Der Gastbeitrag von Hauptgeschäftsführer Johannes Pöttering erschien am 24. März 2021 im Kölner Stadt-Anzeiger: