Ministerpräsident Hendrik Wüst und Vertreterinnen und Vertreter von Gewerkschaften, Wirtschaftsverbänden und Unternehmen in Nordrhein-Westfalen haben bei dem Gipfelgespräch „Sicherheit für unser Industrieland“ am Sonntag, 24. April 2022, in Düsseldorf über die Folgen des Kriegs in der Ukraine für die Versorgungssicherheit und Arbeitsplätze in Nordrhein-Westfalen gesprochen und gemeinsam weitere Handlungsmöglichkeiten erörtert. Gemeinsam verabschiedeten Landesregierung sowie Vertreter von Industrie und Gewerkschaften eine Erklärung für Nordrhein-Westfalen.
Gemeinsame Erklärung:
„Energieversorgung realistisch sichern, Arbeitsplätze umsichtig krisenfest machen, Energiewende entschlossen vorantreiben – das Industrieland Nordrhein-Westfalen steht zusammen”
Präambel
- Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine markiert auch für die Energieversorgung in unserem Land eine tiefe Zäsur.
- Die Versorgungslage beim Erdgas bleibt unsicher. Ein Krisenfall wie etwa ein Lieferstopp für russisches Erdgas bleibt möglich.
- Die Bundesnetzagentur bereitet sich weiterhin auf einen Erdgas-Engpass vor, um im Krisenfall die knappen Gasmengen zu verteilen.
- Erdgas wird für das Industrieland Nordrhein-Westfalen noch auf Jahre ein unverzichtbarer Rohstoff sein.
- Erdgas ist für die aktuelle Produktion in der Glas-, Stahl- und Chemieindustrie zentral und steht damit am Anfang einer Vielzahl von komplexen Wertschöpfungsketten.
- Wo immer möglich sollten wir deshalb weiter an Einsparungen und an einem effizienten Einsatz von Erdgas arbeiten.
- Aber: Ein Produktionsstillstand aufgrund von anhaltender Gasknappheit oder eines dauerhaften Lieferstopps hätte gegenwärtig weitreichende Folgen:
- Unterbrechung von Lieferketten mit unabsehbaren Folgen;
- Schäden an Produktionsanlagen, die hohe Kosten zur Folge hätten;
- Kurzarbeit in den direkt betroffenen Branchen;
- Arbeitslosigkeit in der Grundstoffindustrie und vielen weiteren Wirtschaftszweigen, die von den Grundstoffen abhängig sind;
- dauerhafter Verlust von Produktionsstandorten in Nordrhein-Westfalen und dem restlichen Bundesgebiet;
- eine negative Kettenreaktion für den ganzen Wirtschaftsstandort Deutschland.
- Dazu darf es nicht kommen.
- Wir müssen die vielen tausend Familien, deren Lebensunterhalt von unseren Industriearbeitsplätzen abhängt, schützen und absichern.
- Als Vertreter des Industriestandorts Nordrhein-Westfalen sind für uns deshalb drei Grundsätze entscheidend, für die wir uns auf allen Ebenen einsetzen.
I. Energieversorgung für die Industrieregion Nordrhein-Westfalen sichern
- Gerade für Nordrhein-Westfalen ist eine sichere Energieversorgung für die Industrie grundlegend.
- In Nordrhein-Westfalen als industrieller Kernregion Deutschlands liegen besonders viele energieintensive Betriebe der Grundstoffindustrie:
- Stahlerzeugung und -verarbeitung, Grundstoffchemie, Zementherstellung, Aluminiumindustrie, Glasherstellung und Papierherstellung.
- Die Versorgung mit Erdgas muss bei uns gesichert sein, denn wesentliche Teile unserer Grundstoffindustrie benötigen Erdgas als Energielieferant und als Rohstoff und Prozessgas.
- Unsere Grundstoffe bilden den Anfang vieler Lieferketten in ganz Deutschland und Europa. Sie stellen das Ausgangsmaterial für hochkomplexe Produkte her:
- Maschinen und Anlagen, Gebäude, Automobile, Konsumgüter und medizinische Versorgungsmaterialien, digitale und analoge Infrastrukturen.
- Es geht aber auch um den industriellen Mittelstand und um die Existenz vieler eigentümer- und familiengeführter Unternehmen auch außerhalb der großen Ballungsräume in Nordrhein-Westfalen.
- Nordrhein-Westfalen ist in Deutschland einer der wichtigsten Ausgangspunkte komplexer Wertschöpfungsketten.
- Ein Zusammenbruch der Schlüsselindustrien in Nordrhein-Westfalen würde zu einer negativen Kettenreaktion nicht nur in unserem Bundesland, sondern im gesamten Wirtschaftsstandort Deutschland führen.
- Wir begrüßen daher, dass die Bundesregierung am 30. März 2022 die Frühwarnstufe nach dem Notfallplan Gas ausgerufen hat, um das Monitoring zu verstärken.
- Wir begrüßen, dass die Bundesregierung Vorkehrungen trifft, um im Falle einer Gasmangellage den Rahmen auch für die Industrie angemessen vorzubereiten bzw. anzupassen.
- Wir erwarten, dass im Krisenfall die oben gennannten Zusammenhänge Berücksichtigung finden und besondere Maßnahmen zur Sicherung der Energie- und Gasversorgung der Industrieregion Nordrhein-Westfalen ergriffen werden.
II. Stärkere Anstrengungen für die Krisenfestigkeit unserer Arbeitsplätze
- Wenn wir gute Industriearbeitsplätze erhalten und unsere Arbeitsplätze an sich krisenfest machen wollen, müssen wir nicht nur die Versorgungssicherheit garantieren.
- Die Energieversorgung muss für unsere Unternehmen vor allem auch bezahlbar bleiben, um ihre Wettbewerbsfähigkeit zu sichern.
- Wir müssen den Klimaschutz mit der Industrie und ihren guten Arbeitsplätzen und sozialer Sicherheit zusammenbringen.
- Auch ein attraktiver Investitionsstandort und gute Rahmenbedingungen tragen wesentlich dazu bei, die Arbeitsplätze in unserem Land krisensicher zu machen.
- Zusätzlich braucht es einen sozialen Schutzschirm über jene, die die aktuellen Entwicklungen besonders belasten.
- Die beiden Entlastungspakete der Bundesregierung sind Schritte in die richtige Richtung, aber es wird absehbar weitere Entlastungen brauchen.
- Wir müssen dafür sorgen, dass die Hilfe so schnell und unbürokratisch wie möglich bei den betroffenen Unternehmen ankommt.
- Damit Arbeitsplätze, Versorgungssicherheit und Klimaschutz garantiert werden können, muss der Standort gestärkt und eine Anpassung der Rahmenbedingungen vorgenommen werden.
- Wir fordern die Bundesregierung deshalb auf,
- sich für eine Reduzierung der Belastungen der Industrie durch EU-Regularien einzusetzen,
- sich in Brüssel vor dem Hintergrund der veränderten geopolitischen Lage mit Blick auf die geplante Gesetzesinitiative „Fit for 55“ für ein erneutes Impact Assessment einzusetzen,
- die F&E- und Investitionsförderung für „Breakthrough“-Technologien und Prozesse stärker in den Blick zu nehmen und
- beihilferechtliche Fördermöglichkeiten wie IPCEI auszubauen.
- Wir benötigen marktwirtschaftlich orientierte und industriepolitische Instrumente, die es den Unternehmen erlauben, Investitionen in die grüne Transformation aus eigener Kraft zu tätigen. Hierfür müssen wir die Industrie konsequent vor Carbon Leakage schützen.
- Wir müssen neben der Energieversorgung auch Lieferketten und Wertschöpfung wieder robuster machen. Jede Abhängigkeit ist auch ein wirtschaftliches Risiko.
- Wir müssen den Standort Deutschland so attraktiv machen, dass der industrielle Kern unserer Wirtschaft nicht nur erhalten bleibt, sondern auch mehr Produktion zu uns zurückkommt – und damit auch mehr Arbeitsplätze geschaffen werden.
III. Voraussetzungen für die Energie der Zukunft jetzt schaffen
- Die aktuelle Krise ist eine Krise der fossilen Energieträger, wir müssen sie daher auch als Chance begreifen.
- Wir müssen unsere Abhängigkeit von fossilen Energieträgern schnellstmöglich beenden und – vor allem – den Ausbau Erneuerbarer Energien forcieren.
- Wir müssen zügig die Infrastruktur für eine Wasserstoffwirtschaft planen und dabei mit internationalen Energiepartnerschaften über Deutschland hinausdenken.
- Wir rufen die Bundesregierung dazu auf, konkrete und zielgerichtete Maßnahmen zur Beschleunigung von Planung und Genehmigung beim Ausbau der Erneuerbaren Energien vorzulegen und schnellstmöglich umzusetzen.
- Um die jetzt kurzfristig erforderlichen Maßnahmen unverzüglich beginnen zu können, benötigen wir eine größtmögliche Flexibilität im Planungs- und Genehmigungsrecht.
- In der Zwischenzeit müssen wir unsere Bezugsquellen diversifizieren, um Abhängigkeiten zu reduzieren.
- Jetzt ist Offenheit und Kreativität, aber auch Pragmatismus an vielen Stellen gefordert.
- Auf dem Weg zur Energieversorgung der Zukunft müssen wir unser aktuelles Energiesystem durch kurzfristige Ad-hoc-Maßnahmen und Weichenstellungen auf allen politischen Ebenen – Land, Bund und EU – krisenfester und widerstandsfähiger machen.
- Durch Substitution: Der Bund muss klare Regelungen finden, wie beispielsweise industrielle Kohlekraftwerke in Deutschland zumindest in den nächsten
- Jahren einen sinnvollen Beitrag zur Substitution von russischem Erdgas leisten können. Hierzu müssten die Kohleverfeuerungsverbote aus Stilllegungsauktionen aufgehoben werden.
- Durch umsichtige Reserven: Der Bund sollte darüber hinaus die Möglichkeit schaffen, dass Kohlekraftwerke, die bereits abgeschaltet wurden oder aber bald stillgelegt werden, in die Kraftwerksreserve aufgenommen werden können.
- Damit erhalten wir mehr Flexibilität, um kurzfristig auf Engpässe reagieren zu können, ohne den ambitionierten Kohleausstieg als Ganzes zu gefährden.
- Der Europäische Emissionshandel stellt sicher, dass das ohne erhöhte Treibhausgasemissionen erfolgen könnte.
- Der Kohleausstieg bleibt unser Ziel, wir brauchen in dieser dramatischen Situation aber ein pragmatisches Vorgehen von Politik und Industrie.
- Dazu gehört auch, dass beim Aufbau von LNG-Terminals in Deutschland mehr Tempo gemacht und kreative Lösungen wie Floating-Terminals vorangebracht werden.
- Nordrhein-Westfalen ist Transitland für LNG aus Belgien und den Niederlanden. Das Land wird deshalb kurzfristig für eine Netzverstärkung sorgen. Es wird zudem geprüft, ob industrielle Verbrauchsschwerpunkte in Nordrhein-Westfalen direkt an Importleitungen angeschlossen werden sollten.
- Das Land Nordrhein-Westfalen hat eine Überprüfung und Anpassung seiner Energieversorgungsstrategie bereits angestoßen.
- Wir verstärken zudem unsere – auch grenzüberschreitenden Bemühungen – um einen Ausbau der Wasserstoffinfrastruktur.
Fazit
- Für die Energiewirtschaft stellt der russische Angriffskrieg eine Zäsur dar. Er ist aber auch ein gewaltiger Katalysator. Denn er beschleunigt die Energiewende. Er stellt bestehende Denkmuster in Frage. Und er zeigt uns, woran wir jetzt noch ambitionierter arbeiten müssen. Dabei kommt es auf einen Dreiklang aus Realismus, Umsicht und Entschlossenheit an.
- Realismus: Wir müssen die Abhängigkeit von einzelnen Ländern und Rohstoffen so stark reduzieren, dass ein Importausfall keine substanzielle Gefahr mehr für unsere Versorgungssicherheit darstellt. Wir brauchen ein realistisches Verständnis dafür, welche Energieversorgung notwendig ist und was im Falle des Falles Priorität haben muss.
- Umsicht: Wir müssen die Transformation mehrgleisig beschleunigen und begleiten. Wir benötigen beispielsweise grüne Gase wie Wasserstoff. Umso wichtiger ist, dass wir jetzt internationale Partnerschaften schließen. Wir brauchen Wasserstoffbrücken, um die Versorgung in Deutschland und Europa zu sichern. Wir müssen jetzt in die Sicherheit unserer Energieversorgung und in die Krisenfestigkeit unserer Schlüsselindustrien investieren.
- Entschlossenheit: Wir brauchen deutlich beschleunigte Planungs- und Genehmigungsverfahren, um bei der Erzeugung erneuerbarer Energien einen Sprung nach vorne zu schaffen. Wir brauchen ein gemeinsames Verständnis dafür, welche Infrastruktur unser Energiesystem benötigt und wie das Netz von morgen zu organisieren und zu finanzieren ist.
Hendrik Wüst
Ministerpräsident des Landes Nordrhein-Westfalen
Arndt G. Kirchhoff
Präsident des Unternehmer nrw e.V., Vorsitzender des Beirats der KIRCHHOFF Gruppe
Michael Vassiliadis
Vorsitzender der IG BCE
Dr. Nicole Grünewald
Vize-Präsidentin der IHK NRW, CEO The Vision Company Werbeagentur GmbH
Sven Becker
Vorstandsvorsitzender des bdew NRW, Sprecher der Geschäftsführung der Trianel GmbH
Dr. Frank Weigand
Vorstandsvorsitzender der RWE Power AG
Christian Kullmann
Präsident des Verbands der chemischen Industrie (VCI), Vorstandsvorsitzender von Evonik Industries
Katherina Reiche
Vorstandsvorsitzende der Westenergie AG
Martina Merz
Vorstandsvorsitzende der Thyssenkrupp AG
Dr. Klaus Schäfer
Technologievorstand von Covestro
Knut Giesler
Bezirksvorsitzender der IG Metall NRW
Zur Pressekonferenz:
https://www.land.nrw/media/26689
Zur Pressemitteilung: