Herr Pöttering, die deutsche Wirtschaft ist im dritten Jahre der Rezession. Wie ist die Lage in NRW?
Pöttering Insbesondere in weiten Teilen der Industrie ist die Lage extrem besorgniserregend. Das gilt im besonderen Maße für die vielen energieintensiven Unternehmen, die von der Energiepreiskrise stark betroffen sind.
Erleben wir schon eine De-Industrialisierung?
Pöttering Die Industrieproduktion in NRW ist im Vergleich zu 2018 um 18 Prozent geschrumpft. Das ist ein eindeutiges Zeichen für eine beginnende De-Industrialisierung.
Was erleben die Firmen als die größten Probleme?
Pöttering Die hohen Energiekosten sind für das Industrieland NRW sicherlich das dringlichste Problem, aber auch die lähmende Bürokratie schadet massiv. Allein die neuen Vorschriften für nachhaltiges Wirtschaften (ESG) verlangen von den Firmen die Überprüfung von 1100 Datenpunkten – ein Wahnsinn! Hinzu kommt die hohe Abgabenlast in Deutschland. Hier sitzt perspektivisch wohl sogar die größte Sprengkraft.
Wie geht es mit den Sozialabgaben in den nächsten Jahren weiter?
Pöttering Die Rentenbeiträge werden in den nächsten zehn Jahren um bis zu vier Prozentpunkte steigen, wenn das Rentenniveau künstlich festgeschrieben wird. Die Krankenkassenbeiträge drohen sich um mehr als drei Prozentpunkte zu erhöhen. Das macht den Faktor Arbeit noch teurer und damit noch weniger wettbewerbsfähig. Wenn nicht gegengesteuert wird, droht uns eine Sozialabgabenquote von 49 Prozent.
Bei der Rente sind nahezu alle Parteiprogramme mutlos. Was brauchen wir hier?
Pöttering Das Rentenpaket II, das die SPD will, kostet insgesamt 500 Milliarden Euro – es ist die teuerste Sozialreform seit dem Zweiten Weltkrieg. Und sie suggeriert den Beitragszahlern eine Rentensicherheit, die es so nicht gibt. Wir brauchen dringend eine ehrliche Diskussion über die Zukunft der Rente.
Aber auch die CDU ist mutlos …
Pöttering Ich halte es für richtig, dass sie Anreize für das Arbeiten über das Rentenalter hinaus setzen will. Das ist ein wichtiges Signal. Aber klar, es muss deutlich mehr geschehen.
Was?
Pöttering Der Nachhaltigkeitsfaktor, mit dem in der Rentenformel das sinkende Verhältnis von Beitragszahlern zu Rentnern berücksichtigt wird, muss bleiben. Die Rente mit 63, die Fehlanreize setzt und viel kostet, muss wegfallen. Die Abschläge für vorzeitigen Rentenbeginn sind mit 0,3 Prozent pro Monat zu gering – sie müssten auf 0,5 Prozent steigen. Und wir müssen unbedingt eine sachliche Debatte über das Renteneintrittsalter führen.
Wir brauchen die Rente mit 69?
Pöttering Wir sollten das Rentenalter an die steigende Lebenserwartung knüpfen. Wir leben länger und das im Schnitt auch gesünder – und deshalb ist es auch nur folgerichtig, länger zu arbeiten. Die Wirtschaftsweisen haben hierzu ein kluges Modell vorgeschlagen.
Was ist mit der Mütterrente?
Pöttering Auch sie kostet viel Geld, für das am Ende Betriebe und Arbeitnehmer aufkommen.
Was muss im Gesundheitswesen geschehen?
Pöttering Die steigenden Beiträge sind ein Alarmzeichen, das kann so nicht weitergehen. Wir brauchen mehr Wettbewerb, mehr Effizienz, mehr Digitalisierung. Die Strukturen sind zu behäbig und es dauert alles zu lange. Und wir sollten die Eigenverantwortung stärken durch mehr Vorsorge und mit Rückerstattungen für Versicherte, die keine Leistungen in Anspruch nehmen.
Die Betriebe stöhnen unter den hohen Krankenständen …
Pöttering Betriebe in Deutschland zahlen jährlich 77 Milliarden Euro für die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall – und damit doppelt so viel wie noch im Jahr 2010. Zugleich fehlen ihnen die Fachkräfte zur Erledigung der Arbeit im Betrieb: In Deutschland haben wir Anwesenheitsquoten von teilweise unter 90 Prozent, in Polen hingegen von 96 und in Ungarn von 97 Prozent.
Sind die Deutschen kränker oder fauler?
Pöttering Ich will es so sagen: Deutschland zeichnete sich immer durch Fleiß aus, das muss weiterhin unser Anspruch sein.
Sollte man Karenztage wieder einführen, so dass der Arbeitnehmer die ersten Tage der Krankheit selbst zahlen muss?
Pöttering Als erstes sollten wir die telefonische Krankschreibung abschaffen. Sie senkt die Schwelle, sich krank zu melden. Dann kann man über Karenztage oder auch Bonuszahlungen reden.
Wie könnten die Bonuszahlung aussehen?
Pöttering Wer besonders wenig Krankheitstage hat, könnte eine Prämie erhalten. Das ist bisher aber nur sehr begrenzt zulässig. Eine solche Prämie wäre übrigens keine Belohnung für Anwesenheit, sondern ein Ausgleich für die zusätzliche Belastung. Denn wenn einer fehlt, müssen andere die Arbeit ja mitmachen.
Und bei den Karenztagen? Minister Laumann hält nichts davon, weil die Tarifpartner das dann gleich wieder kassieren …
Pöttering Wir wissen natürlich um die Vorbehalte. Deshalb sollte man hier auch maßvoll vorgehen. Wenn die Krankenstände aber nicht zeitnah auf ein erträgliches Maß zurückgehen, müssen wir auch über Karenztage sprechen. Es führt kein Weg daran vorbei: Wir müssen die hohen Krankenstände in Deutschland senken. Im Schnitt 24 bezahlte Krankheitstage pro Kopf im Jahr gegenüber 15 in Österreich oder 9 in Ungarn – es liegt auf der Hand, dass wir damit nicht wettbewerbsfähig sind.
Wie sehen Sie die Lage auf dem Arbeitsmarkt?
Pöttering Jeden Monat gehen derzeit in der deutschen Industrie 10.000 Arbeitsplätze verloren. Das ist alarmierend. Es sind gut bezahlte Arbeitsplätze. In der Metall- und Elektroindustrie NRW verdient man im Schnitt 65.000 Euro im Jahr. Fallen diese weg, hat dies auch gravierende Folgen für unsere Sozialsysteme. Das können die allermeisten neuen Jobs im Dienstleistungsbereich leider nicht annähernd kompensieren. Auch darum müssen wir für unsere Industrie kämpfen.
Wie sieht es bei der Arbeitslosigkeit aus?
Pöttering Sie steigt. Allein in der Industrie stehen bundesweit mehrere hunderttausend Arbeitsplätze auf dem Spiel. Große Teile der Politik wiegen sich aber weiterhin in trügerischer Sicherheit, weil wir von Arbeitslosenzahlen von fünf Millionen wie 2005 noch weit entfernt sind. Doch auch der Grund hierfür ist volkswirtschaftlich ein Riesenproblem. Die Babyboomer gehen in Rente. In den nächsten 15 Jahren scheiden in der Summe sieben Millionen Menschen aus dem Arbeitsmarkt aus, die dann sowohl als Fachkräfte als auch als Beitragszahler schmerzlich fehlen.
Was muss beim Bürgergeld passieren?
Pöttering Das Bürgergeld darf kein bedingungsloses Grundeinkommen sein. Wer arbeiten kann, muss auch arbeiten. Darum müssen die Jobcenter die Sanktionsmöglichkeiten deutlich stärker ausschöpfen als bisher.
Die CDU will den Namen streichen. Reicht das?
Pöttering Nein. Wer arbeitet, muss auch wieder deutlich mehr haben als derjenige, der nicht arbeitet. Das ist auch eine Frage der sozialen Fairness. Durch die hohe Steigerung 2024 im Zusammenspiel mit der Übernahme von Wohn- und Heizkosten hat sich hier zuletzt einiges verschoben.
Die SPD will den Mindestlohn auf 15 Euro pro Stunde erhöhen. Was sagen Sie?
Pöttering Mit solchen Ansagen höhlt die SPD die Tarifautonomie aus und begeht Wortbruch. Sie hat versprochen, den Mindestlohn nur einmal politisch zu setzen, und die Arbeit dann der Mindestlohnkommission zu überlassen. Diktiert sie nun die 15 Euro, wird die Kommission zur Farce.
Ist der Mindestlohn für die Industrie überhaupt relevant? Sie zahlt doch ohnehin mehr.
Pöttering Ein zu hoher Mindestlohn ist auch für die Industrie ein Problem, denn er hat Einfluss auf das gesamte Tarifgefüge. Wer beim Einstieg zu stark erhöht, verschiebt hierdurch faktisch das komplette Tarifgitter nach oben und setzt damit die Tarifpartner aller Branchen unter Druck.
Am 23. Februar wird gewählt. Welche Koalition ist für die Wirtschaft besser – Schwarzrot oder Schwarzgrün?
Pöttering Es ist nicht unsere Aufgabe, vor der Wahl Koalitionen zu empfehlen. Klar ist aber: Wir brauchen einen echten wirtschaftspolitischen Kurswechsel, wir brauchen schnell eine handlungsfähige Regierung. Schon vor der Sommerpause muss es erste Reformen geben.
Wie steht die Industrie zur AfD? Manche Forderung wie zu Steuern werden Sie unterschreiben …
Pöttering Die AfD ist eine europafeindliche Partei, sie will aus der EU austreten und stellt den Euro in Frage. Ein Dexit würde allein in NRW 490.000 Arbeitsplätze kosten und jedes Jahr fünf Prozent der Wirtschaftsleistung. Die AfD ist damit eine echte Gefahr für unseren Standort, daran ändern auch einzelne grundsätzlich sinnvolle wirtschaftspolitische Forderungen nichts.
Das Interview mit dem Hauptgeschäftsführer von unternehmer nrw ist am 14. Februar 2025 in der Rheinischen Post erschienen: