Wirtschaftslage so schlecht wie selten zuvor, Standortbedingungen für Investitionen in Deutschland international nicht mehr wettbewerbsfähig
Die nordrhein-westfälischen Unternehmer haben Union und SPD aufgefordert, angesichts der außerordentlich ernsten politischen Gesamtlage in ihren Verhandlungen über eine neue Regierungskoalition in Berlin auf politische Rituale, taktische Spielchen und eine Politik des kleinsten gemeinsamen Nenners zu verzichten. Frieden, Freiheit, Demokratie, Zusammenhalt und Wohlstand seien bedroht wie selten zuvor, dem müsse eine neue Bundesregierung neue Zuversicht und eine wirkliche Aufbruchsstimmung entgegensetzen. „Wir brauchen ein völlig neues Mindset in Politik und Gesellschaft“, sagte der Präsident der Landesvereinigung der Unternehmensverbände Nordrhein-Westfalen (unternehmer nrw), Arndt G. Kirchhoff, am Aschermittwoch vor Journalisten in Düsseldorf. Dazu gehöre insbesondere auch ein breites Bewusstsein in der Bevölkerung für die Notwendigkeit, „dass wir dringend unseren Wirtschaftsstandort wieder flott kriegen müssen“.
Deutschland stehe zu Beginn des Jahres 2025 außenpolitisch, sicherheitspolitisch und wirtschaftspolitisch massiv unter Druck. Doch ausgerechnet jetzt sei die Wirtschaftslage in Deutschland so schlecht wie selten zuvor. Seit 2018 sei die Industrieproduktion hierzulande um 18 Prozent gesunken, während sie weltweit um 11 Prozent gewachsen sei. Im Laufe der Ampelzeit habe Deutschland seit 2021 einen Kapitalabfluss von per saldo deutlich mehr als 300 Milliarden Euro verkraften müssen. Seit 1991 sei die Zahl der Industriebeschäftigten von 11 auf 8 Millionen gesunken, während die Zahl der Staatsbediensteten von 8 auf 12 Millionen gestiegen sei. Dies alles sei Ausdruck einer veritablen Wirtschafts- und Industriekrise in Deutschland, die größtenteils politisch hausgemacht sei. Das Land wirke wirtschaftspolitisch kraftlos und sei strukturell verkrustet. Das Geschäftsmodell Deutschland, das seit Jahrzehnten auf einer starken, wettbewerbsfähigen und exportorientierten Industrie aufbaue, stehe auf dem Spiel. „Wir müssen das Ruder jetzt schnellstens herumreißen“, forderte Kirchhoff.
Nach Worten des NRW-Unternehmerpräsidenten benötige Deutschland nun ein klares Kontrastprogamm zur Politik der Ampel. „Wir brauchen andere Antworten und klare Prioritäten – und: Wir haben keine Zeit zu verlieren“, betonte er. Vor diesem Hintergrund begrüßte Kirchhoff das angekündigte Ziel, die Regierungsbildung bis Ostern abzuschließen. Es sei auch ein gutes Zeichen, dass die Sondierungen bereits in vollem Gange seien.
Für die gestrigen finanzpolitischen Beschlüsse in den Sondierungen von Union und SPD zeigte Kirchhoff Verständnis. Es sei richtig, angesichts der sicherheitspolitischen Lage die Verteidigungsausgaben haushaltspolitisch vor die Klammer zu ziehen. Dass die Schuldenbremse selbst darüber hinaus weitgehend unangetastet bleibe, sei auch gut. Unbestritten sei auch der massive Investitionsbedarf für alle Bereiche der Infrastruktur. Klar müsse aber sein, dass mit neuen Schulden allein die Wettbewerbsfähigkeits-Probleme des Landes sicher nicht gelöst werden können. „Es muss trotzdem im Haushalt gespart, und es müssen klare Prioritäten gesetzt werden“, sagte Kirchhoff, „das darf jetzt kein finanzpolitischer Blankocheck sein.“ Kernaufgabe bleibe die breite und tiefgreifende Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit. Union und SPD hätten hier eine riesige Verantwortung.
Die Union wisse, dass sie vor allem auch vom desaströsen Ende der Ampel profitiert habe. CDU und CSU müssten jetzt beweisen, „dass die Union tatsächlich an programmatischer Schärfe und vor allem wieder an wirtschaftspolitischem Profil gewonnen hat“. Mit Blick auf die SPD sagte Kirchhoff, gerade diese Partei habe immer die Bedeutung einer starken Industrie für den Wohlstand des Landes und gut bezahlter Industriearbeitsplätze für die Sozialsysteme verstanden. „Und deshalb setze ich wirtschaftspolitisch ausdrücklich auch auf die SPD“, erklärte Kirchhoff. Für die Sozialdemokraten sei es an der Zeit, sich von der teilweise planwirtschaftlichen Wirtschaftspolitik von Robert Habeck zu lösen und auch wieder stärker Politik für ihre Kernklientel zu machen. „Wenn die SPD sogar bei Arbeitern weit abgeschlagen nur noch auf Rang 3 liegt, kann doch etwas nicht stimmen“, so Kirchhoff. Eindringlich warnte er die Sozialdemokraten davor, angesichts der erheblichen Stimmenverluste insbesondere an CDU und AfD „ihr Heil darin zu suchen, noch weiter nach links zu rücken“.
Nach Überzeugung des NRW-Unternehmerpräsidenten bedürfe es jetzt eines wirtschaftspolitischen Befreiungsschlags. Die Standortbedingungen in Deutschland seien international nicht mehr wettbewerbsfähig. Unter dem Titel „Klare Prioritäten für einen neuen Aufbruch!“ legte Kirchhoff ein wirtschaftspolitisches Papier mit Forderungen der NRW-Unternehmer an eine neue Bundesregierung vor. Als „Generalschlüssel für mehr Investitionen in der Industrie am Standort Deutschland“ bezeichnete er eine schnelle Lösung des seit drei Jahren schwelenden Energiethemas. „Für die energieintensive Industrie bis weit in den Mittelstand hinein brauchen wir wirksame Instrumente zur Begrenzung des Strompreises auf 6 Cent“, so Kirchhoff. Gleichzeitig forderte er für alle anderen Unternehmen eine Begrenzung der Netzentgelte auf 3 Cent und der Stromsteuer auf das europäische Mindestmaß. „Wird die Frage einer sicheren und bezahlbaren Energieversorgung jetzt nicht verlässlich gelöst, werden Deutschland und insbesondere Nordrhein-Westfalen schon bald kein Industrieland mehr sein“, warnte er.
Mit Blick auf die überbordende Bürokratie betonte Kirchhoff, die Regulierungswut mache die Betriebe inzwischen schlichtweg fertig. Ziel müsse es sein, künftig für jedes neue Gesetz zwei alte zu streichen. „Ich erwarte hier jetzt von der neuen Bundesregierung echten Ehrgeiz“, erklärte er. Überdies forderte er auch eine veränderte Personalpolitik in manchen Bereichen des Öffentlichen Dienstes. Allein seit 2017 seien rund 5.000 zusätzliche Planstellen für Beamte in den Bundesministerien entstanden. Er erwarte von einer neuen Bundesregierung, dass sie es schaffe, bis zum Ende der Legislaturperiode wieder mindestens 5.000 Planstellen abzubauen. Überdies forderte er eine deutliche Verringerung der Steuer- und Abgabenlast. Auf beiden Feldern spiele Deutschland seit Jahren um die traurige Pole-Position der teuersten Wirtschaftsstandorte der Welt. Die NRW-Unternehmer hätten hier nach Worten Kirchhoffs zwei klare Erwartungen an eine neue Bundesregierung. Die Sozialbeiträge müssten zwingend wieder unter die 40-Prozent-Marke zurückgeführt werden. Und die Steuerbelastung für Unternehmen müsse zumindest Schritt für Schritt auf ein international wettbewerbsfähiges Niveau von 25 Prozent gesenkt werden.
In der Europapolitik forderte Kirchhoff von der nächsten Bundesregierung eine „fundamentale Kurskorrektur“. In dem mangelhaften europapolitischem Engagement liege sicherlich eines der schwersten Versäumnisse der Ampel. Deutschland sei in Brüssel in den vergangenen drei Jahren zu häufig ein Totalausfall gewesen. Das habe der Reputation Deutschlands in der Europäischen Union schwer geschadet. „Dabei ist unser Land politisch und wirtschaftlich auf Europa so angewiesen wie kein zweites“, sagte Kirchhoff.
Das fatale Desinteresse deutscher Politik an Europa müsse umgehend aufhören. Die neue Bundesregierung müsse in der EU gemeinsam mit Frankreich und Polen eine aktive Führungs- und Gestaltungsrolle übernehmen. Das sei nicht nur wirtschaftspolitisch, sondern vor allem auch geopolitisch geboten, so Kirchhoff.
Zum wirtschaftspolitischen Papier: “Klare Prioritäten für einen neuen Aufbruch!”