Herr Kirchhoff, die Debatte, ob man angesichts des Krieges aus russischer Energie aussteigen kann, wird lebhaft geführt. Kann die NRW-Wirtschaft auf Energie aus Russland verzichten?
Keine Frage, der brutale Krieg Russlands gegen die Ukraine hat erhebliche Folgen auch für uns in Nordrhein-Westfalen. Zwar stehen wirtschaftliche Fragen angesichts dieser unfassbaren Tragödie nicht im Vordergrund, dennoch müssen wir uns mit ihnen beschäftigen. Denn der Krieg in der Ukraine bedeutet auch eine Zeitenwende für die Energieversorgung. Unstrittig ist, dass wir uns von Energielieferungen aus Russland unabhängig machen müssen. Dies wird nicht von heute auf morgen gelingen, muss aber so schnell wie möglich geschehen. Daran führt kein Weg vorbei.
Was heißt, nicht von heute auf Morgen? Ist es nicht die moralische Verpflichtung der NRW-Unternehmen, jetzt angesichts des grausamen Krieges ihren Beitrag zu leisten?
Wir müssen nicht nur moralisch Stärke zeigen, sondern auch wirtschaftlich stärker sein als die Diktaturen dieser Welt. Und darum müssen wir aufpassen, dass wir uns beim Umbau der Energie-Lieferungen nicht mehr schaden als Putin. Dies gilt insbesondere beim Thema Gas: Die Folgen eines abrupten Ausstiegs aus den russischen Gaslieferungen wären für unser Land unabsehbar. Denn Abschaltungen hätten massive Auswirkungen auf weite Teile unserer Wirtschaft. Unsere industriellen Lieferketten sind so eng miteinander verflochten, dass hier erhebliche Domino-Effekte bis hinein in weite Teile des Handels, der Dienstleistungen und des Handwerks drohen. Dies wird in der öffentlichen Debatte oft völlig unterschätzt. Alles hängt mit allem zusammen, alles ist sehr komplex. Genau deshalb machen wir uns auch große Sorgen um tausende mittelständische Unternehmen und hunderttausende Arbeitsplätze, falls tatsächlich eine Gasmangel-Lage eintritt.
Es gibt eine lebhafte Debatte darum, ob Unternehmen bei einem Mangel an Gas vor oder nach Privathaushalten beliefert werden. Was ist Ihr Standpunkt?
Machen wir uns bewusst, dass es vor allem unsere starke Industrie ist, die uns Sicherheit und Wohlstand garantiert. Darum müssen wir auch genau überlegen, wie wir die Lasten im Fall einer Gasmangel-Lage verteilen können. Ich meine, Wirtschaft, Industrie und private Haushalte sollten gleichermaßen einen Beitrag leisten. Darüber nicht zu sprechen, wäre sicherlich falsch. Ich will nicht missverstanden werden: Es geht wahrlich nicht darum, privaten Haushalten den Gashahn abzudrehen, so dass Menschen im Dunkeln oder in der Kälte sitzen. Aber die Debatte um eine vertretbare Absenkung des Gasverbrauchs in privaten Haushalten sollte ohne Polemik möglich sein.
Das klingt etwas zynisch, sollen jetzt Familien mit Kindern frieren, damit die Wirtschaft brummt…
Wir müssen uns klar werden, dass unsere starke Wirtschaft die Basis dafür ist, dass wir der Ukraine helfen können und unser Staat wehrhaft bleibt. Wirtschaftliche Stärke ist existenziell für unser Land – gerade für uns in Nordrhein-Westfalen. Die Landespolitik kann hier mit ihrem wirtschaftspolitischen Kurs viel Gutes bewirken, aber auch viel Falsches auslösen. Wir sind inmitten einer Zeitenwende, in der es entscheidend auf die Stärke und die Leistungsfähigkeit unserer Wirtschaft ankommt. Und mit Blick auf die Landtagswahl am 15. Mai: In Nordrhein-Westfalen muss in den nächsten fünf Jahren alles unterlassen werden, was die Wirtschaft schwächt und zugleich alles unternommen werden, was die Wirtschaft stärkt. Daran entscheidet sich, ob an Rhein und Ruhr investiert wird oder anderswo.
Was erwarten Sie denn als Arbeitgeberpräsident diesbezüglich von der neuen Landesregierung?
Wir brauchen jetzt noch mehr Ehrgeiz und Tempo, damit der Modernisierungsprozess nach der Wahl mit noch mehr Nachdruck fortgesetzt werden kann. Unser Land hat zwar aufgeholt, ist aber längst noch nicht da, wohin es muss und auch gehört. Fatal wäre ein Rückfall zu einer Politik von Argwohn und Misstrauen gegenüber den Unternehmen wie vor 2017, als Nordrhein-Westfalen Sinnbild für bürokratische Sonderwege und wirtschaftsfeindliche Überregulierung war und sogar als Sozialfall der Republik bezeichnet wurde. Und manchmal schien es gar, als sei der Feldhamster wichtiger als der Arbeitsplatz des Menschen.
Wie zufrieden sind Sie mit der amtierenden schwarz-gelben Koalition?
Sie hat manchen bürokratischen Unsinn beseitigt, die Wirtschaftspolitik innovations- und investitionsfreundlicher gestaltet, die Modernisierung der Verkehrsinfrastruktur erkennbar in Angriff genommen und damit vieles zum Besseren gewendet. Gerade die vielen mittelständischen Unternehmer im Land erkennen dies an. Dieser Weg hat unserem Land sichtlich gutgetan, mehrere hunderttausend neue Arbeitsplätze sind dafür der Beleg.
Möchten Sie eine Wahlempfehlung geben?
Nein, das ist als Unternehmerpräsident auch nicht meine Aufgabe. Aber egal, wem der Wähler die Verantwortung für die künftigen Leitlinien der Landespolitik überlässt: Ich warne vor einem wirtschaftspolitischen Richtungswechsel. Die Herausforderungen für unser Land sind immens: Langfristig die digitale Transformation und die demografische Entwicklung, kurzfristig der Aufholprozess vieler Branchen nach der Pandemie und die Bewältigung der Auswirkungen der durch die Flut betroffenen Regionen, dazu jetzt noch die große Unsicherheit über die Folgen des Krieges in der Ukraine. Das alles bewältigen wir nur mit starken und wettbewerbsfähigen Unternehmen. Schnellere Planungs- und Genehmigungsverfahren sowie weiterhin massive Investitionen in die digitale und Verkehrsinfrastruktur dulden keinen Aufschub. Und darum muss Wirtschaftspolitik in NRW Priorität haben.
Nahezu alle Parteien, die für welche Koalition in Frage kommen haben ausgeprägte Forderungen was die Klimapolitik angeht, bei sozialen Fragen ist es nicht viel anders. Welche Auswirkungen hat das auf die Industrie in NRW?
Der Landespolitik muss klar sein, dass jetzt nicht die Zeit für das Abarbeiten neuer sozialpolitischer Wunschlisten oder für Entdeckungsreisen zu neuen umweltpolitischen Sonderauflagen in NRW ist. Jetzt ist die Zeit für die Stärkung unseres Wirtschafts- und Industriestandorts, um die Grundlage für wettbewerbs- und zukunftsfähige Arbeitsplätze zu schaffen. Das sind die wichtigsten Hausaufgaben, die eine künftige Landesregierung entschlossen angehen muss.
Autor: Thorsten Breitkopf
Das Interview erschien am 7. Mai 2022 in der Print- und Online-Ausgabe des Kölner Stadt-Anzeigers.