RP: Laut den jüngsten Konjunkturdaten wittert die NRW-Wirtschaft Morgenluft. Stimmt der Eindruck?
Kirchhoff: Von der niedrigen Basis, auf die wir zurückgefallen sind, konnte es ja nur nach oben gehen. Die Industrie liegt noch etwas unter den Zahlen von 2019, der Bau ist schon drüber. Aber in anderen Branchen wie dem Gastgewerbe ist die Lage noch besorgniserregend. Und flächendeckend kämpfen wir trotz steigender Auftragseingänge mit neuen Problemen.
Welche?
Kirchhoff 45 Prozent der Betriebe fehlen die Vormaterialien – eine Entwicklung wie wir sie zuletzt in der Nachwendezeit um 1991 erlebt haben. Diesmal ist der Auslöser aber der Lockdown von vor über einem Jahr. Damals wurden auf einen Schlag die Wirtschaft angehalten und die Grenzen geschlossen. Die daraus resultierende Knappheit war zuerst im vergangenen Herbst bei Metall und Kunststoffen zu spüren. Das hat sich dann fortgesetzt. Mittlerweile erleben wir das bei Papier, Holz, Gips und PVC-Rohren. Egal wo man hinhört, sind die Dinge knapp und teuer. Trotz hoher Nachfrage können wir also nicht mehr produzieren.
Das Problem sind dabei die globalen Lieferketten. Ist es überhaupt denkbar, dass man Dinge wieder zurück nach Europa holt?
Kirchhoff Wir haben ja viele Grundstoffe bei uns, nur nicht genügend. Derzeit laufen beispielsweise die Kraftwerke nicht auf Volllast, weil weniger Energie benötigt wird. Dann fehlt uns Gips. Durch das Home-Office wird weniger Auto gefahren. Dadurch wird weniger Sprit produziert, das führt dann dazu, dass in den Raffinerien weniger Abfallprodukte anfallen, die für PVC-Rohre benötigt werden. Diese Dinge bekommen wir aber im Laufe des Jahres in den Griff. Schwieriger ist es bei Elektronikbauteilen wie Halbleitern. Da müssen wir jetzt in Europa und vor allem auch in Deutschland Kapazitäten aufbauen. Das dauert aber.
Dann stehen Sie aber vor dem Problem, dass sie ohnehin schon zu wenig Fachkräfte haben.
Kirchhoff Stimmt. Wir haben schon während der Pandemie darauf hingewiesen, dass der Fachkräftemangel nicht verschwunden ist. Kurz bevor uns Corona ereilte, haben wir ja die gesetzliche Grundlage bekommen, um gesteuert Fachkräfte aus dem Ausland zu uns zu holen. Das ist aber ja in der Realität wegen der Pandemie nie umgesetzt worden. Dieses Instrument müssen wir nun ganz intensiv nutzen. Die Arbeitskräfte, die wir bereits haben, müssen wir Unternehmer zudem durch Umschulungen fit für die Transformation – etwa in Sachen Digitalisierung oder Mobilitätswende - machen, damit sie weiter bei uns an Bord bleiben. Da arbeiten wir aber eng und gut mit den Gewerkschaften zusammen.
Was ist mit dem Nachwuchs?
Kirchhoff Die Ausbildung hat zu Unrecht ein Imageproblem. Wir müssen die jungen Menschen stärker dazu motivieren, dass sie eine Ausbildung machen. Dazu muss auch in der Gesellschaft ein Umdenken stattfinden. Auch darf die Industrie nicht länger als der große Buhmann gelten. Sie ist die Grundlage für unseren Wohlstand und unseren Sozialstaat.
Wie zufrieden sind Sie denn mit dem Start der Impfkampagne über die Betriebsärzte?
Kirchhoff Ich bin da schon zufrieden. Natürlich wünsche ich mir mehr Impfstoff, denn das Impfen durch die Betriebsärzte hat Riesenpotenzial. Aber jedem, der Ahnung von Produktionsabläufen hat, musste auch klar sein, dass völlig neue Impfstoffe erst entwickelt und dann die Kapazitäten Schritt für Schritt aufgebaut werden müssen. Da lief ja schon vieles in Rekordzeit. Kritik würde ich allerdings an so manchen in der Politik üben, die die Erwartungen der Bürger zu sehr in die Höhe geschraubt haben. Wir brauchen jetzt Geduld. - Und wir müssen im nächsten Schritt dafür sorgen, dass auch möglichst alle zum Impfen kommen. Wir dürfen keine Entwicklung wie bei den Tests für unsere Mitarbeiter bekommen. Obwohl es das Angebot kostenfrei gibt, nehmen es zu viele Beschäftigte nicht wahr. Deshalb müssen wir weiter intensiv für das Impfen werben.
Was halten Sie von einer Impfpflicht?
Kirchhoff Nichts, das muss schon auf freiwilliger Basis passieren. Aber Druck auf die Kette kommt schon allein dadurch, dass viele Freiheiten jetzt an eine vollständige Immunisierung geknüpft sind.
Welche Hilfestellung wünschen Sie sich von der Politik für die Wirtschaft?
Kirchhoff Wir haben gesehen, wie fatal sich das Anhalten und Stören der Wirtschaft auf den Staatshaushalt ausgewirkt hat. Solide Finanzen sind aber das A und O. Die hohen Schulden, die jetzt gemacht wurden, müssen zurückgeführt werden. Das gelingt nur mit Wirtschaftswachstum und ohne weitere Belastungen für die Unternehmen. Stichworte sind die schon heute überbordende Steuerlast, die hohen Lohnzusatzkosten und die überzogenen Energiepreise. Wegen Letzteren wird inzwischen vielfach ein Bogen um unser Land gemacht. Wenn die Grundstoffindustrie nicht in Deutschland gehalten werden kann, dann wandert als nächstes die Verarbeitende Industrie ab. Außerdem dauern die Genehmigungsverfahren in Deutschland viel zu lang. Wir haben jetzt sehr ambitionierte Klimaziele, aber die Infrastruktur ist darauf noch gar nicht ausgelegt.
Heißt das, Sie wollen die Bürger beim Bau von Stromtrassen, Windrädern oder Convertern nicht mehr beteiligen?
Kirchhoff Nein, aber die Bürgerbeteiligung bei uns ist ausufernd. Sie darf nur einmal stattfinden. Es kann nicht sein, dass sich Verfahren über mehr als zehn Jahre hinziehen, weil es andauernd neue Einwände von Umwelt- und Naturschutzgruppen gibt. Um die Klimaziele für 2030 zu erreichen, haben wir gerade noch 8 ½ Jahre. Die Vorschläge zur Beschleunigung liegen auf dem Tisch. Die Politik muss ich aber jetzt endlich einmal beherzt umsetzen. Sorgen bereitet mir in diesem Zusammenhang das Verhalten der Grünen. Sie tragen die Klimaneutralität wie eine Monstranz vor sich her, sind aber die ersten, die vor Ort demonstrieren, wenn ein neues Windrad oder eine neue Stromtrasse gebaut wird.
Das ist zu pauschal. Die Grünen NRW haben gerade beispielsweise begrüßt, dass die Stromtrasse am Niederrhein verlegt wird.
Kirchhoff Es gibt natürlich auch vernünftige Stimmen bei den Grünen. Aber große Sorgen habe ich vor der Basis. Wenn Sie sich die Anträge für den Parteitag Ende der Woche anschauen, dann graut mir davor.
In den Umfragen liegen die Grünen in NRW sogar vor der CDU.
Kirchhoff Auch da ist am Ende entscheidend, wie radikal das Programm aussehen wird. Außerdem ist es natürlich eng verknüpft mit Personen. Mit einer Realo-Politikerin wie Mona Neubaur kann man sehr wohl ordentlich zusammenarbeiten. Aber mit einem fundamentalistischen Programm, und so liest sich der Entwurf für das Bundestagswahlprogramm, kann die Wirtschaft überhaupt nicht leben. Denn es strotzt nur so vor Dirigismus, Verboten und Staatseinfluss.
Sollte der nächste Bundeskanzler Armin Laschet heißen?
Kirchhoff Als Nordrhein-Westfale würde ich das natürlich sehr begrüßen. Und Armin Laschet hat hier gezeigt, dass er ein Land führen kann.
Hendrik Wüst gilt als einer der aufsichtsreisten Nachfolger für den CDU-Vorsitz in NRW und auch für das Amt des Ministerpräsidenten. Für Sie eine gute Wahl?
Kirchhoff Ich finde es zunächst einmal konsequent und richtig, dass Armin Laschet nach Berlin geht. Die CDU muss die Nachfolgefrage klären. Da werde ich mich nicht einmischen. Aber mit Sicherheit ist Hendrik Wüst sehr geeignet und einer der absoluten Leistungsträger, der es geschafft hat, Planungskapazitäten aufzubauen und hier die Infrastruktur in NRW ernsthaft voranzubringen. Aber natürlich macht zum Beispiel auch ein Herbert Reul einen tollen Job, der Beachtung in ganz Deutschland gefunden hat.
Die CDU ist ein Wahlprogramm schuldig geblieben. Jetzt können Sie hier mal ein paar Vorschläge o machen.
Kirchhoff Die CDU muss ihr wirtschaftspolitisches Profil deutlich schärfen. Und abgesehen von den schon geschilderten Maßnahmen würde ich mir wünschen, dass möglichst viel vom Einstieg die Rede ist. Deutschland ist jetzt aus der Kernenergie ausgestiegen, aus der Braunkohle. Wir steigen gerade de facto aus dem Verbrennungsmotor aus. Ich würde jetzt gerne mal ein paar Antworten darauf hören, wie denn der Einstieg in diese neue Welt tatsächlich von statten geht.
Müsste ein Unterkapitel auch heißen „Einstieg in die Rente mit 68“?
Kirchhoff Das hielte ich für richtig. Jeder Lehrling bei uns im Betrieb könnte Ihnen mit einem einfachen Dreisatz nachweisen, dass angesichts einer sinkenden Zahl von Beitragszahlern und einem immer größeren Anteil von Rentnern das System beim Status quo mittelfristig kollabiert. Und wir können da auch nicht unbegrenzt Steuergelder zuschießen. Fakt ist, dass wir alle immer älter werden. Stellschrauben sind nun mal das Rentenniveau, Beitragshöhe und die Beitragsjahre. Wenn sich die Lebenszeit verschiebt, muss sich auch die Arbeitszeit verschieben.
Das Interview führte Maximilian Plück und ist erschienen am 11. Juni 2021 in der Rheinischen Post:
https://rp-online.de/wirtschaft/die-buergerbeteiligung-bei-uns-ist-ausufernd_aid-59205241