Herr Kirchhoff, wie stark treffen die Coronafolgen Ihr Unternehmen?
Wir haben natürlich auch die Einbrüche. Wenn die amerikanischen und die europäischen Werke stehen, dann dreht sich bei uns kein Rad. Doch ganz geschlossen waren wir nie, da wir noch Teile für chinesische Kunden produziert haben. Aber das waren eben nur zehn Prozent.
Ist das bedrohlich für die Firma?
Wir sind gut aufgestellt und gut finanziert und können ziemlich lange durchhalten. Was uns im Augenblick Sorge macht, ist der Zustand der Lieferanten und der Lieferketten. Hoffentlich sind alle fit genug, um das zu überstehen.
Sieht es danach aus?
Im Moment ja. Wir kaufen und verkaufen als deutsche Wirtschaft insgesamt deutlich mehr als die Hälfte unserer Waren und Dienstleistungen in Europa und sind deshalb von gesunden Zulieferern und Partner abhängig und von einem reibungslosen Verkehr über die Grenzen.
Das hat nicht geklappt in der EU.
Ich habe die Hoffnung, dass wir aus Fehlern lernen und besser werden durch die Pandemie. Es geht natürlich nicht, dass Piloten, Lkw-Fahrer oder sogar ganze Fabriken mehr oder weniger beliebig von örtlichen Behörden in Quarantäne gesteckt oder geschlossen werden.
Haben Sie solche Erfahrungen gemacht?
Ein Landrat in Portugal hat in unserem dortigen Werk die Arbeit untersagt, und im ungarischen Werk durften slowakische Pendler nicht über die Grenze und zur Arbeit kommen. Das ist nicht schön und alles in allem ein großer Stresstest. Bislang ist es gut gegangen, die Lieferketten sind brüchig, haben aber gehalten.
Und jetzt läuft die Produktion wieder an?
Ja, in dieser Woche geht es an den meisten Standorten los, auch in Turin. Und es ist schön zu sehen, wie sich die Leute auf die Arbeit freuen nach diesen sehr belastenden Wochen.
Wie ist die Situation in China?
Wir haben dort drei Fertigungsstandorte, und die produzieren bereits wieder auf einem Niveau von rund 90 Prozent. Daran können wir uns orientieren: Wenn wir so schnell aus dem Schlimmsten rauskommen wie China, dann würden wir mit einem blauen Auge davonkommen.
Was ist mit den USA?
Die stecken noch mitten drin und machen uns die meisten Sorgen. Die Unzulänglichkeiten des Gesundheitssystems werden jetzt deutlich, und das politische Handeln in einem anderen Gesellschaftssystem. Die Amerikaner kümmern sich eben nicht so um die Menschen wie wir in Europa. Wir haben Kurzarbeitergeld und andere Unterstützungsmöglichkeiten für Leute in Not, die USA nicht. Deshalb sind die Amerikaner aber auch noch viel abhängiger von einer schnelleren Wiederöffnung der Wirtschaft als wir.
Erwarten Sie am kommenden Donnerstag Öffnungsschritte, wenn die Ministerpräsidenten wieder mit der Bundesregierung beraten?
Bei allen weiteren Maßnahmen muss die Politik berücksichtigen, dass für die Unternehmen verlässliche Zeitpläne aufgestellt und planbare Perspektiven aufgezeigt werden. Gerade für Gastronomie und Handel ist die Lage besonders dramatisch. Immer wieder neue kurzfristige Änderungen von Auflagen oder Einschränkungen wären jedoch extrem schädlich und insbesondere in der Industrie nicht umsetzbar. Das muss unbedingt vermieden werde. Ich hoffe, dass wir Schritt für Schritt weiterkommen.
Und wenn nicht?
Bei allen Lockerungen dürfen wir unser Gesundheitssystem nicht überfordern. Die Gesundheit der Menschen geht vor. Aber Menschen werden auch krank, weil sie von Insolvenz oder Arbeitslosigkeit bedroht sind.
Braucht es parallel zur schrittweisen Öffnung Konjunkturprogramme?
Das hängt vom Verbraucher ab und den Unternehmen. Wird Geld ausgegeben oder haben alle Angst vor der Zukunft und sparen? Wir sprechen derzeit mit der Politik über Kaufanreize und Investitionen.
Was schwebt Ihnen vor?
Es geht darum, die Wirtschaft so schnell wie möglich wieder in Schwung zu bringen. Dann generiert der Staat auch höhere Steuereinnahmen und die Sozialkassen füllen sich wieder. Wenn der Konsum nicht in Schwung kommt, dann kann man nachhelfen. Vielleicht mit Gutscheinen für die Verbraucher. Doch wir brauchen auch mehr öffentliche Investitionen.
Was ist mit den Investitionen der Firmen?
Es gibt dafür derzeit überhaupt keine Anfragen, kein Unternehmer baut eine Halle oder kauft Maschinen. Mindestens bis zum Herbst wird nicht viel passieren, weil die Firmen erst wieder auf die Beine kommen müssen und das Geld zurückhalten. Deshalb sollten wir die staatlichen Investitionen deutlich erhöhen.
Gibt es keine Grenzen mehr für das Geldausgeben? Ende letzte Woche hat die Politik nachgelegt und zehn Milliarden für das Gastgewerbe, Arbeitslose und Kurzarbeiter beschlossen.
Insgesamt ist das Krisenmanagement der Politik in Bund und Land hervorragend. Da schaut die Welt staunend nach Deutschland. Doch wir müssen jetzt auch aufpassen. Beim Kurzarbeitergeld dürfen wir nicht die Sozialkassen überfordern. Die sind schneller leer als uns lieb ist. Meine Sorge ist, dass den Unternehmen jetzt mehr Liquidität entzogen wird, weil sie das Kurzarbeitergeld vorfinanzieren müssen. Besser wäre es gewesen, hätten sich die Hilfen noch mehr auf echte Notfälle beschränkt. Es wäre jetzt mal an der Zeit, dass wir Politik ohne Geld machen. Irgendwann ist die Kasse leer.
Wie funktioniert Politik ohne Geld?
Bürokratie abbauen, Planungs- und Genehmigungsverfahren beschleunigen, Perspektiven schaffen. Das wären jetzt gute Signale, die die Wirtschaft brauchen könnte. Die Unternehmen brauchen Planungssicherheit und Projekte, die Mut machen und gut sind für die Stimmung.
Was haben Sie im Blick?
Zum Beispiel Digitalisierung. Es ist doch toll, wie das jetzt einen Schub bekommt. Wir gewöhnen uns an Videokonferenzen und müssen nicht so viel reisen. Das ist auch gut für das Klima. Jetzt sollten wir mehr Speed machen beim Netzausbau. Wir haben aber auch noch die Energie- und die Mobilitätswende vor der Brust. Alle Zukunftsthemen sollten bald wieder auf die Tagesordnung. Das zeigt dann den Menschen, dass es weiter geht.
Hätten Sie gerne eine Abwrackprämie für die Autoindustrie?
Nein, keine Abwrackprämie, aber einen Kaufanreiz für klimafreundlichere Autos, auch für moderne Dieselfahrzeuge sowie junge Gebrauchte. Wir müssen jedoch vor allem auf die Wirtschaft als Ganzes schauen – und bald wieder die Lokale öffnen, damit das soziale Leben wieder in Fahrt kommt.
Wie stark verändert die Pandemie die Globalisierung?
Vielleicht bekommen wir eine Neujustierung. Globalisierung bleibt wichtig, vor allem für die deutsche Industrie, die überall in der Welt produziert. Wir haben in die Märkte investiert, unser Know-how eingebracht und Arbeitsplätze geschaffen, sodass die Menschen dort Wohlstand aufbauen und dann wiederum unsere Produkte kaufen. Aber es geht auch um Nachhaltigkeit. Muss ich wirklich jedes Produkt aus den entferntesten Ecken der Welt holen? Klar ist aber auch: Wir werden weiterhin viele Rohstoffe importieren und haben auch deshalb ein großes Interesse an einem offenen Welthandel.
Bekommen die Protektionisten nicht Aufwind durch Corona?
Ich rechne eher mit dem Gegenteil. Es könnte sein, dass die Coronakrise zu einem Umdenken in den USA führt: Abschottung hat große Nachteile, das merken auch die Amerikaner. Eine Pandemie kann nur global bekämpft werden.
Sie haben das Kirchhoff-Werk in Turin erwähnt. Wie nehmen Sie die Stimmung in Italien wahr?
Wie bei uns und in vielen Ländern gibt es auch in Italien nationalistische Parteien, die populistisch agieren und hetzen. Die Leute, mit denen wir zu tun haben und die für uns arbeiten in Italien, die denken ganz anders. Klar ist aber auch: Die Italiener brauchen Zuversicht und Perspektive und Hilfe.
Tun wir genug?
Jetzt müssen wir helfen, und das wird Deutschland Geld kosten, keine Frage. Doch Europa ist uns das wert. Es kann nicht sein, dass man uns wie nach der Finanzkrise das Image des Krisengewinners anheftet. Deutschland kann und wird helfen.
Das Gespräch führte Alfons Frese.
Quelle: Tagesspiegel vom 27.4.2020 - https://www.tagesspiegel.de/wirtschaft/arbeitgeberpraesident-kritisiert-eu-ganze-fabriken-mehr-oder-weniger-beliebig-in-quarantaene-gesteckt/25774960.html