Herr Kirchhoff, wir erleben einen Sommer mit Hochwasser, Hitzerekorden und Waldbränden. Wie oft haben Sie in den vergangenen Wochen heimlich gedacht, dass unsere Art zu leben und zu wirtschaften nicht mehr lange gut geht?
Arndt Kirchhoff: Der deutschen Industrie ist schon lange bewusst, dass wir für die Welt von morgen mit innovativen Produkten und Prozessen noch nachhaltiger werden müssen. Nur dann können wir auf dem beschwerlichen Weg in eine klimaneutrale Wirtschaft unsere technologische Führungsposition behaupten und Nachahmer finden. Die Kanzlerin hat einmal sehr richtig gesagt: Wir müssen im Weltmaßstab so viel besser sein, wie wir teurer sind als andere Standorte.
Sie zitieren die Kanzlerin. Vermisst die NRW-Wirtschaft schon jetzt Angela Merkel?
Kirchhoff: Die Kanzlerin hat sich in 16 Jahren große Verdienste um unser Land erworben und international viel Anerkennung gefunden. Manche ihrer Koalitionskompromisse haben den Unternehmen allerdings das Leben unnötig schwer gemacht.
Zum Beispiel?
Kirchhoff: Ich verstehe etwa nicht, warum auf den letzten Metern der Legislaturperiode ein bürokratisches Lieferkettengesetz durchgepeitscht werden musste. Es ist unstrittig, dass Zulieferer ethische und soziale Standards einhalten müssen. Aber mittelständische Betriebe, die 99 Prozent unserer Wirtschaft ausmachen, können nicht bis in den letzten Winkel der Erde diese Auflagen überprüfen. So etwas ist schnell in ein Gesetz geschrieben, aber in den Auswirkungen für ganz normale Arbeitgeber einfach nur dramatisch.
Sind die Unternehmen an Rhein und Ruhr für verschärfte Klimaauflagen gewappnet?
Kirchhoff: Bislang erleben wir einen politischen Überbietungswettkampf im Setzen von Zielen, ohne sich darüber Gedanken zu machen, wie wir sie erreichen. Ohne Leitungen kann kein Ökostrom dorthin fließen, wo er benötigt wird. Ohne 5G-Masten funktioniert die smarte Steuerung des Stromverbrauchs nicht. Ohne Wasserstoff-Infrastruktur gelingt kein Umstieg auf grüne Schwerindustrie. Ohne Ladestationen wird das E-Auto kein Massenprodukt. Wir müssten jede Woche 2000 Ladepunkte bauen, tatsächlich aber bauen wir nur 300. Ich frage mich, wie wir bei unserem Tempo in Planungs- und Genehmigungsverfahren bis 2030 hier weiterkommen sollen.
Stichwort E-Auto: Brauchen wir ein festes Schlussdatum für den Verkauf von Neuwagen mit Verbrennungsmotor?
Kirchhoff: Die Klimaziele führen automatisch dazu, dass herkömmliche Verbrennungsmotoren ab 2035 nicht mehr verkauft werden, weil sie nicht emissionsfrei sein können. Ich werbe trotzdem für Technologie-Offenheit und einen Mobilitätsmix der Zukunft. Heute fahren 50 Millionen Verbrennungsmotoren in Deutschland. Wir wissen nicht, ob sich irgendwann synthetische Kraftstoffe rechnen und inwieweit Lkw und Baumaschinen auf Wasserstoff-Antrieb umgestellt sind. Das E-Auto wird sich auf der kurzen Strecke durchsetzen. Der Verbrennungsmotor hat perspektivisch nichts mehr in den Städten verloren. Für die langen Strecken aber brauchen wir kluge Konzepte. Wo ist denn die politische Idee, zum Beispiel synthetische Kraftstoffe steuerfrei zu stellen, um emissionsfreies Fahren in Bestandsautos zu ermöglichen? Mir wird im Bundestagswahlkampf zu viel über Nebensächlichkeiten diskutiert und zu wenig über solche zentralen Zukunftsfragen.
Auch die Konzerne in NRW stellt die ökologische Transformation der Wirtschaft vor erhebliche Herausforderungen. Ihre Prognose?
Kirchhoff: Unternehmer sehen den Klimaschutz schon lange nicht mehr als Bedrohung, sondern als Chance, zukunftsfähige Arbeitsplätze zu schaffen. Allerdings müssen dafür die politischen Rahmenbedingungen geschaffen werden. Wenn die Energiepreise da bleiben, wo sie aktuell sind, werden Innovationen in der Chemie-, Papier- und Zementindustrie hier nicht mehr stattfinden. Wenn Thyssen-Krupp nicht die Unterstützung bekommt, um auf CO2-freie Stahlproduktion umzustellen, dann wird auch die komplette weiterverarbeitende Industrie verschwinden. Ich bin mir nicht sicher, ob allen Parteien wirklich bewusst ist, was alles am Erhalt von unseren gesamten Wertschöpfungsketten hängt.
Was schlagen Sie vor?
Kirchhoff: Ich wünsche mir nach unseren ganzen Ausstiegsdebatten endlich mal ein Einstiegsszenario. Die neue Bundesregierung sollte sofort eine Kommission berufen, in der Wirtschaftsvertreter, Wissenschaftler und Umweltverbände darüber beraten, mit welchem konkreten Fahrplan Deutschland seine Wettbewerbsfähigkeit sichern und seine Klimaziele erreichen kann.
Der nächste Corona-Herbst steht vor der Tür. Brauchen wir eine Impfpflicht?
Kirchhoff: Ich bin gegen Zwang, aber wir werden eine Impfpflicht durch die Hintertür erleben. Wenn die Infektionszahlen weiter steigen, werden viele private Veranstalter von ihrem Hausrecht Gebrauch machen und nur noch Geimpfte und Genesene reinlassen. Wer noch voll am gesellschaftlichen Leben teilnehmen will, wird also an der Impfung nicht vorbeikommen.
Sollen Arbeitgeber dauerhaft ihren Mitarbeitern kostenlose Tests anbieten?
Kirchhoff: Es kann keine dauerhafte Leistung der Arbeitgeber sein, Impfmuffel kostenlos zu testen. Es wird auch Firmen geben, die ihren Mitarbeitern sagen: Wenn Du kein Impfzertifikat vorlegst, wird es auf Dauer schwierig mit unserer Zusammenarbeit.
Hinweis: Das Interview ist am 21. August 2021 in der Print-Ausgabe der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung erschienen.
Autoren: Stefan Schulte, Tobias Blasius, Andreas Tyrock